Kulturpessimismus – eine alte und neue Gefährdung

Ein Beitrag von Thorsten Dietz

1. Fritz Sterns Buch «Kulturpessimismus als politische Gefahr» als Augenöffner

In unserer 32. Folge von Geist.Zeit spielt ein Buch von Fritz Stern (1926-2016) eine wichtige Rolle. Sein 1961 erschienenes Werk «Kulturpessimismus als politische Gefahr» ist mir in den 1990ern in die Hände gefallen. Ich erinnere mich noch an das Gefühl: zuerst fühlte ich mich persönlich angegriffen und in Frage gestellt. Je länger je mehr merkte ich: Manche Erkenntnis ist schmerzhaft, aber heilsam.

Fritz Stern war ein jüdisch-deutscher Historiker, der vor dem Faschismus aus Deutschland in die USA fliehen musste. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich Stern in seinem Buch mit rechts-konservativen Denkern des 19. und 20. Jahrhunderts auseinander, die zu Vordenkern des Nationalsozialismus wurden. Das Besondere an Sterns Buch ist der Fokus auf eine bis dahin vielfach übersehene Grundhaltung: eine umfassende Ablehnung der aufgeklärten bzw. liberalen Welt. Dabei ging es nicht um eine reaktionäre Sehnsucht nach Erhalt und Wiederherstellung der monarchischen, vormodernen Welt. Kulturpessimismus meint bei Stern eine grundsätzliche Ablehnung jedes gesellschaftlichen Liberalismus, ohne dass eine echte gesellschaftliche Alternative, eine Rückkehr zur Vergangenheit oder ein realistisches Reformprogramm erkennbar wird.

Bei der Lektüre von Sterns Buch merkte ich: Auch in mir steckt sehr viel Kulturpessimismus. Die umfassende Ablehnung von allem, was irgendwie liberal, progressiv etc. waren, hatte mich zunehmend geprägt; und ich begann dies problematisch zu finden, nicht zuletzt aufgrund von Sterns Analysen.

2. Kulturpessimismus als konservativer Nihilismus

Stern zeigt am Beispiel von einst sehr einflussreichen Denkern wie Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Arthur Moeller van den Bruck, wie eine modernitätsfeindliche Haltung eine Dauerkritik der Gegenwart freisetzt, die zu einer zunehmend autoritären Sehnsucht nach völliger Umwälzung der Verhältnisse und starker Führung führt.

Paul Anton de Lagarde (1827-1891)

De Lagarde war ursprünglich Theologe, der als Religionswissenschaftler ab eine Professur in Göttingen bekleidete. Mit seinen populären Gesellschaftsanalysen wurde er zu einem der meistgelesenen Kritiker des Wilhelminischen Deutschlands.

Trotz der erfolgreichen Reichsgründung 1871 sah er Deutschland in einer umfassenden Krise. Die schwindende Religiosität sah er als das Versagen der Kirchen an. Die Präsenz vieler Juden im Kultur- und Bildungsbereich empfand er als starke Bedrohung der deutschen Kultur. Die Forderungen der Frauenbewegungen waren für ihn eine Auflösung überkommener Ordnungen. Im Bildungswesen sah er einen andauernden Niedergang, eine Verlust der nationalen Identität und Stärke. Mit seiner Kritik am vermeintlich umfassenden Niedergang traf er einen Nerv vieler Zeitgenossen. Aus heutiger Sicht ist diese Klage höchst verwunderlich. Im Rückblick handelt es sich um eine Epoche, in der die deutsche Schul- und Wissenschaftswelt global Massstäbe setzte. Zugleich waren Militarismus und die Besinnung auf nationale Fragen im Alltag dauerpräsent. Trotzdem hatten viele das Gefühl, dass Lagardes Klagen über den allgemeinen Niedergang mutig und zutreffend seien.

August Julius Langbehn (1851-1907)

Langbehn wurde berühmt mit seinem zunächst anonym veröffentlichten Buch Rembrandt als Erzieher (1890). Tatsächlich hat sein Buch nicht allzu viel mit dem niederländischen Maler zu tun. Vielmehr geht es ihm um den Menschentyp des wahren Deutschen. Die Deutschen der Gründerzeit waren für ihn weit entfernt von ihrem ursprünglichen Wesen. Zunehmende Verstädterung und Pluralisierung der Gesellschaft hielt Langbehn für zivilisatorisch krankhaft. Naturverbunden, stark und tapfer, fromm und traditionsverbunden, mit Sinne für Kunst und Handwerk, so seien die wahren Deutschen. Die Juden waren ihm Inbegriff aller Schäden des modernen Deutschlands. Er selbst suchte zunehmend Zuflucht in einem streng katholischen Christentum.

Langbehns Vision vom Rembrandtdeutschen fiel auf fruchtbaren Boden vor allem in der aufkommenden Jugendbewegung seiner Zeit.

Allein die 1896 begonnene Wandervogelbewegung hatte bald Millionen Mitglieder. Die Aufbrüche der Jugend in die Natur ging einher mit Elitebewusstsein und dem Denken: wir sind die neue Generation, die nicht mehr so entfremdet ist vom wahren Leben wie die Mächtigen in den Städten.

Die Welt müsste funktionieren wie eine Jugendgruppe: Kameradschaft und Gemeinschaft, klare Führung und Gehorsam, solche Prinzipien müssten auf allen Ebenen der Nation wieder durchgesetzt werden.

 Arthur Moeller van den Bruck (1876-1925)

Moeller van den Bruck lebte wieder eine Generation später. Berühmt wurde er durch sein 1923 erschienenes Hauptwerk Das Dritte Reich. Haben Lagarde und Langbehn das Kaiserreich verachtet, so hasste Moeller van den Bruck die Weimarer Republik. Vor allem der Parlamentarismus und die Parteienvielfalt galten als unerträglich.

Moeller spürte, wieviel Hass in Deutschland aufgestaut war, zumal nach dem Krieg. Diesen Hass anzufachen war seine Mission.

«Er wünschte, dass dieser Hass endlich zum Ausbruch kommen möge. Er war fest überzeugt, dass der verweichlichte Westen der machtvollen Woge des Hasses nicht werde standhalten können.» (292)

Vor allem die Liberalen seiner Zeit machte er zur Zielscheibe seiner Kritik. Dabei war dieser Hass längst sichtbar in Gewalt gegen Repräsentanten der Demokratie. Matthias Erzberg vom Zentrum und Walther Rathenau von der liberalen Partei wurden 1922 und 1923 ermordet.

Revolutionsträume und Nihilismus

Ein wesentliches Merkmal dieses Kulturpessimisten war für Stern ihre tiefe Entfremdung gegenüber der eigenen Zeit. «Die hier besprochenen Kritiker weigerten sich, die Gesellschaft ihrer Zeit in irgendeiner Hinsicht anzuerkennen.» (326) Sie sahen sich grundsätzlich ausserhalb ihrer Gesellschaft und innerlich geschieden von allem, was als modern galt.

Dieser Konservatismus lebte aber auch nicht mehr wirklich aus Tradition. Er kannte kein Bewahren des Guten, kein Masshalten und keine Achtung für das Gemeinwohl. Der vermeintliche Konservatismus kippte in einen Nihilismus. Alles Bestehende ist so fraglich, dass es keine Reform mehr geben könne. Es brauche eine Revolution. In der Politik, im Bildungssystem, in der Kunst, überall.

Es gibt keine Probleme, an denen man arbeiten kann, vielmehr ist alles problematisch, so dass nur noch eine totale Umwälzung helfen könne.

Alles wird schwammig, wenn man fragt, wie es denn werden soll. Die Visionen der Kulturkritiker sind oft nur Phrasen: Es soll eine echte Gemeinschaft des Volkes geben, unter Führung durch die Besten, einen neuen geistigen Adel.

Nach dem ersten Weltkrieg galten Lagarde und Langbehn als Propheten. «Sie hatten die Stimmung vieler Deutscher der Nachkriegszeit vorweggenommen, hatten in gewissem Umfang sogar diese Stimmung erzeugt, und dieser Kulturpessimismus  wurde nun zu einer politischen Kraft, mit der rationale Denker nicht gerechnet haben.» (344)

Nein, diese Denker hatten noch keine faschistische Programmatik entwickelt. Aber Stern fragt zurecht: «Kann man der Vernunft abschwören, die Gewalt verherrlichen, das Zeitalter des unumschränkten Machthabers prophezeien, alle bestehenden Institutionen verdammen – ohne damit den Triumph der Verantwortungslosigkeit vorzubereiten?» (351)

3. Gestalten des Kulturpessimismus

Sterns Buch handelt nicht einfach vom Konservatismus insgesamt, sondern von einer Gefahr, die damals auf dieser Seite des politisch-kulturellen Spektrums immer einflussreicher wurde. Es fällt nicht schwer, vergleichbare Erscheinungen in ganz anderen Konstellationen zu benennen.

a) Islamistischer Kulturpessimismus

V.S. Naipauls Buch Islamische Reise (1982) erinnert in mancher Hinsicht an Sterns Wahrnehmungen. Der in Grossbritannien lebende Literaturnobelpreisträger mit indischer Sozialisation war 1979 viele Monate lang durch einige muslimische Länder gereist wie Iran, Pakistan, Malaysia und Indonesien. In seinem Reisebericht erzählt er von vielen Begegnungen und Gesprächen. Naipaul trifft auf lauter Menschen, die sich für eine Islamisierung der Gesellschaft einsetzen. Verwundert fragt Naipaul sie, ob sie denn nicht auch finden, dass ihre Gesellschaft schon sehr stark islamisch geprägt sei. Nein, so sagten diese, dann hätten wir nicht so viele Probleme. Wir sind viel zu stark geprägt durch Verwestlichung und Verweltlichung. Alles müsse anders werden. Der Islam ist die Lösung. Was heisst das konkret, wollte der Schriftsteller wissen? Das wird sich finden, wenn wir alle wieder den Islam in seiner ursprünglichen Reinheit beherzigen. Dann wird sich zeigen, dass allein Islam die Antwort für alle Fragen unserer Zeit kennt. Naipauls Blick von innen und außen zugleich ist inzwischen selbst ein zeitgeschichtliches Dokument, das man nicht unkritisch lesen wird. Kulturpessimismus und seine nihilistischen Folgen dokumentiert es in jedem Kapitel.

b) Linker Kulturpessimismus

Stern selbst hatte in den USA die Erfahrung gemacht, dass Kulturpessimismus keineswegs nur von konservativer oder rechter Seite kommen muss. Genauso gibt es auch einen linken Kulturpessimismus. Im Vorwort von 1974 beobachtet Stern: „In der Rebellion der Jugend (…) gegen das gesamte „kapitalistische-liberalistische System“ haben viele Klagen der hier diskutierten drei Kulturkritiker ihren Widerhall gefunden.“ (XIX) Schon im 19. Jahrhundert gab es einige Motive der Gesellschaftskritik, die von links wie von rechts sehr ähnlich formuliert werden konnten, vor allem der Antikapitalismus und auch antisemitische Haltungen. Darum ist es kein Wunder, wenn Stern auch für das 20. Jahrhundert befindet: „Obwohl in vieler Hinsicht mit der traditionellen Kritik der politischen Rechten verwandt, verband sich der Protest dieses Mal mit einer verschwommenen linksgerichteten Auffassung.“ (Ebd.)

Auch dieses Mal ist die Kritik am Bestehenden scharf und umfassend, die Vision des guten Lebens über Schlagworte hinaus kaum zu greifen:

Nun findet „die Antimodernität ihren politischen Ausdruck nicht in einem mystischen Nationalismus, sondern in einem utopischen Sozialismus, in einer Sehnsucht nach einem humanen Marxismus, einem Marxismus jenseits aller Wirklichkeit.“ (Ebd.)

Dieser linke Aufbruch der 1960er und 70er Jahre ist heute Geschichte geworden. Sterns zeitgenössischer Eindruck eines unkonkreten Utopismus wird man schwerlich widersprechen. Heute dürften manche Formen antikolonialer Totalkritik des liberalen Westens ähnliche Fragen aufwerfen.

Es dürfte kein Wunder sein, dass manche linksextreme Kritiker:innen des liberalen Westens stärkere Verwandtschaft mit der Hamas spüren als mit den liberalen Demokratien des Westens. Je wesentlicher eine Haltung des Kulturpessimismus wird, desto gleichgültiger ist offenbar die Frage nach einer gemeinsamen Vision für die Zukunft. Wenn der totale Widerstand entscheidend ist, können die Koalitionen des Kampfes immer bizarrer werden.

c) Christlicher Kulturpessimismus

Im Alter gewinnt dieses Thema für Fritz Stern noch einmal neue Brisanz. Schon unter George Bush Jr. formuliert Stern seine Sorgen. Im Vorwort der Ausgabe von 2005 schreibt Stern über die USA: „Ein wichtiger Teil amerikanischer Gegenwart wird heute von „culture wars“ … beherrscht.“ (XVII) George W. Bush war wie zuvor schon Reagan der Kandidat der religiösen Rechten, nur dass sich Bush nun auch ausdrücklich als Teil dieser Bewegung verstand.

„Religiöser Fundamentalismus… gewinnt an Einfluss. Politiker, teils aufrichtig überzeugt, teils mit Blick auf ihre Wähler, machen sich dieses religiös begründete anti-westliche Denken zu eigen. So kommt es, dass sogenannte „wiedergeborene Christen“ eine Politik der Einschüchterung innerhalb Bush`s Amerika wie auch ausserhalb unterstützen.“ (Ebd.)

Was ist das Problem am Kulturpessimismus in seiner christlichen Gestalt? In dieser Perspektive entsteht ein merkwürdiges Gegenüber. Die Gesellschaft wird wahrgenommen als säkulare Welt. Die eigene Position wird hingegen als christlich behauptet und zugleich zutiefst marginalisiert empfunden. Man ist der festen Überzeugung, dass christliche Werte immer mehr verdrängt, verleugnet, ja lächerlich gemacht werden.

Wir haben uns in unserer Geist.Zeit-Folge zu Francis Schaeffer mit einem der Begründer einer solchen geistigen Haltung beschäftigt. Auch bei Schaeffer lässt sich dieses Problem beobachten: Es ist sehr klar und deutlich, was um jeden Preis abzulehnen ist, was keinen Raum oder Einfluss mehr haben soll. Was für eine Nation ihm vorschwebt und inwiefern die noch demokratisch heissen kann, ist viel undeutlicher.

Für Stern war die Präsidentschaft von George W. Bush nur ein Anfang. Die Kandidatur Trumps war für ihn die Zuspitzung einer zutiefst beängstigenden Entwicklung. Kurz vor seinem Tod sagte er in einem Interview:

„Ich bedauere manchmal, dass ich aufgewachsen bin mit dem Ende einer Demokratie und jetzt, am Ende meines Lebens, noch einmal um die Demokratie kämpfen muss.»

4. Zeitkritik

Sterns Analysen sind bis heute aufschlussreich. Leider. Sie erklären natürlich nicht einfach vollständig die Entstehung des Faschismus. Aber sie machen einen bedenkenswerten Aspekt sichtbar.

  • Kulturpessimismus geht von der irrigen Überzeugung aus, die eigene Kultur quasi aus Distanz, von aussen sehen zu können. Tatsächlich aber sind kulturpessimistische Haltungen Teil der Kultur, die sie kritisieren.
  • Der Kulturpessimismus der Wilhelminischen und der Weimarer Zeit war zutiefst antidemokratisch. Die Parteienvielfalt und der Parlamentarismus wurden grundsätzlich und explizit abgelehnt. Angesichts der eigenen Sehnsucht nach Eindeutigkeit und Klarheit galt es als unerträglich, im Parlament in einer Vielfalt von Positionen um Kompromisse ringen zu müssen.
  • Das Missliche an allen Formen radikaler Ablehnung der Moderne ist: Es gibt keinen Weg zurück. Die Welt hat sich weitergedreht in irreversibler Art und Weise. Beschwörungen einer heilen Vergangenheit waren schon immer trügerisch.
  • Kritik an der jeweiligen Zeit und ihrer Kultur gehört zu den grossen Errungenschaften der aufgeklärten Moderne. Zeitkritik ist etwas ganz anderes als Zeitgeist-Verachtung.
  • Theologisch besteht der zentrale Fehler kulturpessimistischer Strömungen darin, die Zweideutigkeit aller Ideale nicht aushalten zu können. Anstatt alles auch eigene Streben als vorläufig akzeptieren zu können, wird das absolute Gegenüber von gut und böse imaginiert.

Literatur

Fritz Stern. Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland. Stuttgart: Klett Cotta 2018 (München: dtv 1986.).

V.S. Naipaul. Islamische Reise. Unter den Gläubigen. München: List 2002.