Zeitgeist und Gottesgeist

Eine kleine Spielanleitung | von Andreas Loos

Wie will ich mich gegenüber dem Zeitgeist verhalten? Das ist die persönliche und praktische Frage, die sich mir nach allen philosophischen, theologischen und sozio-kulturellen Erkundungsflügen in unserem Dossier «Zeitgeist» stellt.

Wie hast Du’s mit dem Zeitgeist?

So lautet der Titel eines ersten Beitrags, in dem ich versuche habe zu hören, was andere auf die Zeitgeistfrage antworten. Dabei begegnete mir vor allem eine kulturpessimistische Skepsis gegenüber dem Zeitgeist bis hin zur Verteufelung: «Es wird alles immer schlimmer, und schuld ist der Zeitgeist!» Was bleibt, sind Warnungen, wachsam zu sein und sich vom Zeitgeist nicht einlullen zu lassen. Diese Haltung ist in mehrerlei Hinsicht problematisch.

Wie geht ein mündiger Umgang mit dem Zeitgeist?

Wer oder was der Zeitgeist eigentlich ist, das kann man in dieser pessimistisch ablehnenden Haltung so gut wie nicht herausfinden. Und vielleicht ist das ja auch bequemer als sich noch ernsthaft Gedanken über etwas zu machen, das man sich lieber auf Distanz halten will. Das Problem ist nur:

Man täuscht sich darüber hinweg, dass man selbst nie ausserhalb des Zeitgeistes steht. Ja, es bleibt verborgen, dass die eigene Opposition gegen den Zeitgeist selbst Züge des Zeitgeistes in sich tragen könnte.

Und genau auf dieser Basis kann Zeitgeistmündigkeit kaum wachsen.

Ein spielerischer Umgang mit dem Zeitgeist

Eine Aufklärung in Sachen Zeitgeist ist dringend nötig, und wir von Fokus Theologie hoffen, mit unserem Dossier und allen Gäst:innen da einen echten Beitrag zu leisten. Zu ahnen, welche Einstellungen die eigene Zeitgeistpraxis nicht fördern, ist aber lediglich die halbe Antwort. Deshalb nun ein Versuch mit der positiven Antworthälfte:

Ein lebensdienlicher Umgang mit dem Zeitgeist ist ein spielerischer!

Ich bin auf diese Idee gekommen, als ich merkte, wie viel Aspekte, die ich aus der Spieltheorie kenne, in dem stecken, was ich an Zeitgeistdynamiken beobachte.

Wo bleibt da der Ernst des Lebens?

Dass Geister mit uns spielen und wir mit ihnen, mag erst mal leichtsinnig und naiv klingen. Geradezu wirklichkeitsfremd angesichts des Lebensernstes, den wir derzeit spüren. Oder gespenstisch, wenn uns die rasanten kulturellen Umwälzungen verunsichern und ängstlich machen. Und ja, manches von dem, was ich hier probiere, hat etwas Verspieltes.

Es soll hier keinesfalls behauptet werden, das Leben sei ein Spiel. Aber wo nicht mehr gespielt wird, da ist auch kein Leben mehr.

Dies geschieht dort, wo wir uns vom Ernst des Lebens so gefangen nehmen lassen, dass wir auf ihn nur noch mit Krampf und Kampf reagieren. Dabei haben wir mittlerweile in allen Bereichen unserer Kultur entdeckt, dass eine spielerische Herangehensweise an die Herausforderungen, die sich uns stellen, manchmal unentbehrlich ist.

Ohne Ernsthaftigkeit zerfällt jedes Spiel

Wie eng Spiel und Ernst zusammengehören, zeigt sich auch im Akt des Spielens selbst. Jedes Spiel lebt davon, dass alle Spieler:innen mit Ernst bei der Sache sind, sich unter Umständen heftig anstrengen und sogar verausgaben.

Zum Ernst des Spiels gehören auch die Spielregeln und -grenzen, auf die wir uns verständigen und verpflichten. Wer sie bricht, wird zum Spielverderber.

Regeln, die dem Spiel dienen

Ich glaube, ein spielerischer Umgang mit den Kräften, die an unserer Kultur zerren, könnte eine andere Art hervorbringen, zeitgeistig zu leben. Daher versuche ich es mit einer kleinen Spielanleitung, mit ein paar Spielregeln für das Feld, auf dem wir dem Geist der Zeit und dem Geist Gottes begegnen.

Damit diese Spielregeln nicht einfach in der Luft hängen, werde ich sie im Folgenden jeweils kurz beschreiben und plausibilisieren, auch theologisch.

Denn ich glaube, dass der Geist Gottes eine geheimnisvolle Mitspielerin ist, die uns inspirieren und ermächtigen kann, wenn es um einen mündigen Umgang mit dem Zeitgeist geht.

Insgesamt gilt: Regeln sind dafür da, das Spielen zu ermöglichen und zu fördern. Tun sie dies nicht mehr, müssen sie angepasst werden. Neue Zeiten werden auch in Zukunft andere Zeitgeistspielregeln brauchen.

Regel 1: Atme tief durch und mach Dir bewusst, dass Du ständig umspielt wirst von den Kräften, die unsere Zeit prägen. #Zeitgeistteilnehmer:in

Die Sehnsucht nach zeitgeistfreien Standpunkten

Diese spieleröffnende Anleitung richtet sich vornehmlich an diejenigen, die meinen, einen Standort jenseits der Zeitgeistdynamiken einnehmen zu können. Angesichts des turbulenten und oft verunsichernden Kulturwandels ist der Wunsch nach einem festen, eindeutigen und einordnenden Fixpunkt mehr als verständlich. Aber: Wer von dieser Sehnsucht erfasst wird, könnte – ohne es zu merken – von einem anderen Zeitgeist getrieben sein. Aus der Zeitgeistnummer kommen wir so schnell nicht raus. Widerstand scheint hier zwecklos.

Gelassener Mut zum Zeitgeist

Wir sind aber dem Geist der Zeit auch nicht einfach ausgeliefert. Zwischen passiv ergeben und aktiv dagegen liegt das Spielen. Diese dritte Möglichkeit ist die verheissungsvollste und freiheitlichste Weise, am Zeitgeist zu partizipieren. Sie birgt in sich, was wir derzeit gut brauchen können, nämlich gelassenen Mut zum Zeitgeist.

Das Leben spielt

Zeitgeistmut entsteht, wenn wir uns bewusst machen, wie sehr alles Lebendige immer schon spielerisch miteinander verbunden ist: Die unberechenbaren Teilchen im Beschleuniger, die Gravitationskräfte der Sonnensysteme; die feinabgestimmten Prozesse im eigenen Körper; erkenntnisbringende Gedankenspiele bis hin zu naturwissenschaftlichen Experimenten; die Schönheit der Orchesterklänge und das Glück der Liebe.

Das Spiel gehört zur Webstruktur unseres Lebens. Wir spielen viel häufiger, als uns bewusst ist.

Warum sollte der Zeitgeist davon ausgeschlossen sein? Liegt es nicht nahe, das Verhältnis zu ihm als ein spielerisches zu entwerfen und zu gestalten?

Ohne Spiel keine Kultur

In seiner Theorie der Kultur hat der holländische Kulturphilosoph Johan Huizinga den spielenden Menschen («Homo Ludens» lautet der Buchtitel von 1938) ins Zentrum gestellt. Das Spiel, so wird gezeigt, ist nicht einfach eine kulturelle Erscheinung, sondern die formative Kraft der Kultur.

«Kultur in ihren ursprünglichen Phasen wird gespielt. Sie entspringt nicht aus Spiel wie eine lebende Frucht sich aus dem Mutterleibe löst, sie entfaltet sich in Spiel und als Spiel» (S. 189).

Ist der Zeitgeist eine Spielerin?

Daran lässt sich mühelos anknüpfen. Wenn die bisherigen kulturellen Formen, in denen wir lieben, arbeiten, konsumieren, uns ernähren, lernen, politisieren usw., unserer Vision von einem erfüllten Leben im Wege stehen, entstehen kollektive Sehnsüchte nach kultureller Veränderung. Das ist die Kraft des Zeitgeistes. Sie spielt uns lauter kreative Ideen und interessante Angebote zu, wie wir (anders) weiterleben könnten. Sie ist eine Spielerin, auf die wir am besten spielerisch reagieren.

Die beunruhigende Offenheit des Spielausgangs

Spiel kann verunglücken. Die Erfahrungen, in denen uns das Leben übel mitspielt, sollen hier keinesfalls unterschlagen werden. Und doch dürfen wir das Staunen darüber nicht verlernen, wie die Kräfte des Lebens tagtäglich so zu unseren Gunsten spielen, dass uns zu leben möglich ist, offen bleibt und uns sogar auch glückt.

Der Ausgang des Spiels ist offen, sonst wäre es abgekartet. Das kann Unbehagen oder sogar Ängste auslösen. Gegenüber dem flattrig und diffus daherkommenden Zeitgeist erst recht. Damit derartige Gefühle das Spiel nicht von vornherein blockieren, erinnern wir uns am besten daran, dass es noch eine göttliche Mitspielerin gibt.

Regel 2: Halte Deine Sinne wach für die Gegenwart des Geistes Gottes in den anderen Zeitgeistteilnehmer:innen. So wirst Du die Lust daran verlieren, sie und ihr Verhalten zu verurteilen, und stattdessen staunen, welche Sehnsucht sie antreibt. #Geistesblick

Der spielende Gott

Vielleicht war Platon einer der ersten Philosophen, der Gott als Spieler und den Menschen als dessen Spielzeug gedacht hat:

«Der Mensch […] ist nur ein vom Gott gemachtes Spielzeug – und eben das ist in der Tat das Beste an ihm.»

Solche Vorstellungen finden sich auch in den Wurzeln und Traditionen des christlichen Glaubens.

Die schöpferische Weisheit

Die christliche Mystik sieht in der göttlichen Weisheit eine lustvolle Spielerin. Berühmt sind die Worte aus Sprüche 8,30-31: Als die Welt geschaffen wurde, sagt Sophia,

«war ich beständig bei ihm [Gott]; ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit; ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern».

Der Kirchenvater Gregor von Nazianz dichtet: «Denn der erhabene Logos – er spielt. Mit buntesten Bildern schmückt er, wie es ihm gefällt, auf jegliche Weise den Kosmos.»

Die tanzende Trinität

Für Basilius von Caesarea ist der Heilige Geist der «Chorleiter des Lebens», der die Menschen tanzen und spielen lässt. Mechthild von Magdeburg weiss um die «spielende Flut, die in der Dreifaltigkeit schwebt und wovon allein die Seele lebt». Tatsächlich wagt es die christliche Trinitätslehre und stellt sich Gott als einen ewigen, dreipersonalen Tanz (spil) der Liebe vor.

Der Geist des Lebens

Ich gehe an all den gewichtigen Fragen, die sich hier ergeben, vorbei und fokussiere das Wesentliche. Gottes Geist steht für seine spielerische Gegenwart in der Welt und im Leben der Menschen. Die biblischen Schöpfungserzählungen behaupten kühn, dass jeder Mensch von diesem Geist des Lebens erfüllt ist. Nur so ist der Mensch eine «lebendige Seele» (1Mose 2,7), und das heisst: Mit Güte und Potenzialen beschenkt, die auf Entfaltung warten; mit Bedürftigkeit begabt, die sich sehnsüchtig nach der Fülle des Lebens ausstreckt.

Nicht von allen guten Geistern verlassen

Gottes Geist ist die spielerische Kraft, die eine spielende Welt hervorbringt und durchdringt. Sie ist die grosse Mitspielerin aller Menschen und auch des Zeitgeistes. Wenn ich mit dieser Perspektive auf das Zeitgeschehen blicke, ändert sich etwas Entscheidendes. Mag mir das Zeitgeistige, das ich beobachte, erst einmal schrill, abstossend oder verstörend vorkommen, so weiss ich mich doch verbunden mit allen Zeitgeistteilnehmer:innen.

Mögen die kulturellen Umwälzungen auch beängstigend sein, so ahne ich, dass wir nicht von allen guten Geistern verlassen sind, auch der Zeitgeist nicht.

Wo ich Gottes Geist in der Sehnsucht, dem Sog nach Lebendigkeit und Ganzheit, der Menschen ahne und glaube, da fällt es mir zunehmend schwerer, sie und ihre Lebensart zu verurteilen. Gottes Geist spielt mit, das stimmt mich zuversichtlich.

Regel 3: Traue Deinen spielerischen Fähigkeiten und probiere aus, wie Du mit den unterschiedlichen Zeitgeistwellen lebensdienlich umgehen kannst. #Spieler:innengeist

Die Regulierung der eigenen Kräfte

Die Ideen und Angebote für ein glückendes Leben, mit denen uns der Zeitgeist umspült, kommen und gehen. Wir sprechen von Zeitgeistwellen, und mit Wellen kann man nur spielen. Die Dosierung der eigenen Kräfte – nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig – ist dabei grundlegend wichtig. Es gibt Wellen, da spürt man, dass sie zu mächtig sind, und taucht passiv unter ihnen durch. Andere sehen zwar bedrohlich aus, reizen uns aber, so dass wir sie mit aller Energie anschwimmen und am Ende dann begeistert surfen.

Ruhigere Gewässer

Mit ein wenig Erfahrung findet man den Ort, an dem die Wellen noch gar keine Entscheidung fordern, ob man sie über sich ergehen oder von ihnen erfassen lassen soll. Hier kann man sich tragen und anheben lassen, um die Strömung zu beobachten und zu sehen, wie die Wellen sich entwickeln oder einfach so verebben.

Scheitern ist erlaubt – lernen auch

Ein spielerischer Umgang mit dem Zeitgeist kann gelassen machen. Das tut uns gerade dann gut, wenn unser Zeitgeistspiel einmal misslungen ist. Vielleicht wenn wir mit einem Zeitgeistversprechen auf ein erfüllteres Leben voll gecrasht sind.

Wir sind keine Weltmeister im Richtigmachen. Wir dürfen uns selbst gestatten, das Spiel mit dem Zeitgeist zu üben und dabei auch zu scheitern.

Unserer Zeitgeistkompetenz tut das keinen Abbruch, im Gegenteil: Wir entwickeln je länger, je mehr ein Gespür für den Zeitgeist, vielleicht schon bevor er eine sichtbare Welle bildet.

Regel 4: Lass Dich nicht verführen von denen, die sich anmassen, den einen Zeitgeist ausmachen zu können. Bleibe skeptisch gegenüber allen Versuchen, Deutungshoheit über den Zeitgeist zu bekommen. #Zeitgeistverführung

Gekaperter Zeitgeist

Wenn es stimmt, dass der Zeitgeist zuallererst eine neutrale, kreative, potenzialgeladene Kulturenergie ist, dann ist er instrumentalisierungsanfällig. Wer kulturellen Wandel aufhalten will, beeinflusst die Menschen mit der Idee eines üblen Zeitgeistes. Wer kulturellen Wandel als zwingend notwendig propagiert, bedient einer guten Zeitgeistvorstellung. Übrigens teilt der Geist Gottes dasselbe Schicksal. Auch er ist in der Vergangenheit schon für alle (un)möglichen Interessen gekapert worden.

Vereindeutigter Zeitgeist

Zeitgeist würde ich am liebsten konsequent im Plural schreiben. Ist es nicht anmassend, den einen Zeitgeist bestimmen zu wollen, während ganz unterschiedliche Zeitgeister nebeneinander und oft auch gegeneinander wirken? Es geht hier wohl oft um verdeckte Kontroll- oder Machtansprüche der Menschen.

Wer verführt eigentlich wen?

Oft wird – gerade in kulturpessimistischen Kreisen – vor den Verführungen des Zeitgeistes gewarnt.

Ich glaube, dass der Zeitgeist als kulturelle Dynamik nichts will – schon gar nicht verführen. Wenn, dann verführen wir den Zeitgeist.

Etwa indem wir ihn zum grossen Verderber oder Heilsbringer hochstilisieren und instrumentalisieren. Wehren kann er sich dagegen jedenfalls nicht.

Regel 5: Lass Dich weder hetzen noch unter Druck setzen, einem bestimmten Zeitgeist zu folgen. #Zeitgeistangst

Spielen heisst, so tun, als ob

Die gelassene Haltung gegenüber dem Zeitgeist, von der eben schon die Rede war, leuchtet hier noch einmal schön auf.

Spielen heisst, so tun als ob. Es geht um ein Leben im Probiermodus. Und das meint: Wir können die Angebote des Zeitgeistes ausprobieren.

Etwa indem wir mal ausprobieren, ob eine derzeit angesagte Ernährungsumstellung für uns passt. Und wenn nicht, dann ist das auch in Ordnung. So entsteht ein Gelassenheitspuffer gegenüber denen, die mir weismachen wollen, ich müsse unbedingt einem bestimmten Zeitgeist folgen.

Sich freispielen

Wo ein Zeitgeist uns vor sich hertreibt, Verpassensängste schürt und uns als Gebot der Stunde in etwas hineinzwängen will, da ist seine ursprünglich freisetzende und ermächtigende Kraft umgeschlagen in ihr Gegenteil. Und davon machen wir uns spielerisch frei. So wie es Jürgen Moltmann in seinem Büchlein „Die ersten Freigelassenen der Schöpfung“ einmal ohne Zeitgeistbezug formuliert hat (Seite 20):

«Man befreit sich im Spiel und wohl immer zuerst spielend vom Zwang des gegenwärtigen Lebenssystems und erkennt lachend, dass es gar nicht so sein muss, wie es ist und sein zu müssen behauptet wird.»

Regel 6: Schreibe dem Geist Gottes nicht vor, wo er was und wie wirkt. Dadurch befreist Du Deine Wahrnehmungsfähigkeit und könntest entdecken, wie Gottes Geist mit dem Zeitgeist zusammenspielt. #Zeit.Geist.Spiel

Gottes Geist lässt sich nicht einhegen

Die Worte Jesu aus dem Johannesevangelium 3,8 gehören zu den Grundüberzeugungen hinsichtlich der Wirkungsweise von Geist.

«Der Wind/Geist weht, wo er will, und du hörst sein Sausen, weisst aber nicht, woher er kommt und wohin er geht.»

Das löst verständlicherweise mulmige Gefühle aus. Gerade angesichts der wirren und wilden Zeiten wäre es doch für die eigene Orientierung ein Segen, wenn sich der Geist Gottes klar und eindeutig vom Zeitgeist abgrenzen liesse.

Gott Geist liebt Stoffwechsel

Gläubige Menschen haben ein berechtigtes Bedürfnis nach einer eindeutigen, verlässlichen und bleibenden Gegenwart Gottes.

Deswegen ist der Geist Gottes auch kein Gespenst, das mal kommt und mal geht. Er liebt es, sich zu manifestieren, zu verleiblichen, zu verstoffwechseln. Er gerinnt in allerlei Formen, in denen er wohnt und lebendig ist.

Die Kirche ist gerade als Institution ein Stoffwechselprodukt des Geistes Gottes.

Nochmal: Gottes Geist liebt Stoffwechsel

Wenn wir aber kirchliche Formen und Geist miteinander identifizieren, wird es nicht mehr lange dauern, bis die Luft raus ist. Auf uns wartet dann ein erneuter Stoffwechsel des Geistes. Er transformiert die alten Formen, in denen wir uns mittlerweile unlebendig und entgeistert vorkommen. Oder er verlässt sie, um sich neue Behausungen zu schaffen. Und dies innerhalb und ausserhalb der Kirche. Vor den neuen Geistformationen brauchen wir uns nicht zu fürchten, denn es ist derselbe Geist, der sie hervorbringt.

Zeitgeist und Heiliger Geist schmieden Allianzen

Ist es gerade aus Sicht des Glaubens nicht naheliegend, dass Gottes Geist auch im Zeitgeist weht und mit ihm Allianzen eingeht? Christoph Markschies hat vor ein paar Jahren diese Verbindung am Beispiel der ersten gleichberechtigten Frauenordination in Deutschland (12.01.1943) in einem lesenswerten FAZ-Artikel einsichtig gemacht:

Ein Bündnis zugunsten der Gleichberechtigung

Damals kam es zu einer glücklichen Kombination von Heiligem Geist und Zeitgeist: Argumente, die aus den Heiligen Schriften des Christentums als normativer Quelle abgeleitet wurden, verbündeten sich mit situativen Zeitgeistkonstellationen zugunsten der Gleichberechtigung von Frauen. Doch dieses Bündnis hat in der Geschichte der Kirche, etwa in der Spätantike, auch dazu geführt, dass Frauen aus kirchlichen Ämtern zurückgedrängt wurden – leider. Das wäre dann eine unglückliche Kombination von Zeitgeist und Heiligem Geist. Markschies schliesst von diesen Beobachtungen auf die Wandelbarkeit des Zeitgeistes:

«Gelegentlich förderte er in der Geschichte des Christentums die Gleichstellung der Frauen, wie das Beispiel des geistlichen Amtes zeigt, gelegentlich verhinderte er Gleichstellung oder beendete solche Tendenzen.»

Spielgefährt:innen zugunsten des Lebens

Lässt sich von einem «rätselhaften Wettlauf zwischen Zeitgeist und Heiligem Geist» (Eugen Rosenstock-Huessy) sprechen? Laufen beide spielerisch miteinander um die Wette zugunsten des Lebens?

An den Geist Gottes zu glauben heisst für mich, neugierig zu sein: Wo kooperiert er mit dem Zeitgeist, um das Leben blühen zu lassen?

Wo im Kleinen und wo im Grossen? Woher soll der Zeitgeist auch seine kreative Kraft haben, wenn nicht «von ganz weit oben»? Und ist es nicht die pure göttliche Ermächtigungsmacht, wenn es heisst: «Als die Zeit erfüllt war …» (Galaterbrief 4,4)?

Seit ich mit dieser Haltung unterwegs bin, habe ich viel weniger das Bedürfnis, zu urteilen, mich meiner selbst durch Abgrenzung zu vergewissern oder gar neidisch zu sein, wenn ich den Geist Gottes ausserhalb von Kirche und Glaube am Werk ahne. Wer Gottes Geist sucht, darf den Zeitgeist nicht übersehen.

Regel 7: Sei mit dem Wirken guter Geister geduldig. Schau auf die Früchte, die sie zeitigen, denn an ihnen vermagst Du zu erkennen, ob sie gut und lebensfördernd sind. #Entwicklungsgrosszügigkeit

Irgendwann unterscheiden wir die Geister

Ein spielerisches Verhältnis zum Zeitgeist liegt sowohl jenseits von Anpassung (Vermengung mit dem Geist Gottes) als auch von kategorischer Feindschaft (Entgegensetzung zum Geist Gottes).

Fragwürdig verspielt wäre es aber, wenn wir kein Gespür mehr dafür hätten, ob es uns gut tut, wenn wir uns auf einen bestimmten Zeitgeist einlassen.

So offen der Ausgang des Zeitgeistspiels zunächst auch sein mag, irgendwann kommt der Punkt, an dem wir fragen müssen, ob es dem Leben dient. Kann er seine Versprechen auf ein gelingendes Leben nun einhalten oder nicht? Anders gesagt: Wir prüfen und unterscheiden die Geister. 

An den Früchten sollt ihr sie erkennen

Der Ruf nach Geisterunterscheidung erklingt oft in einem Geist, der aus der Angst heraus auf Vereindeutigung und Abgrenzung drängt. So verständlich das ist, so problematisch ist es auch. Denn das, was im Werden ist und auf die Welt kommen möchte, braucht Zeit zu wachsen.

Entwicklungsgrosszügigkeit ist hier die angezeigte Haltung, in der wir den Blick halten auf das, was die Bibel Frucht des Geistes nennt (Galterbrief 5,22): «Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue.»

Zu ergänzen wären Freiheit, Gerechtigkeit und noch viel mehr. Nämlich alles, was dem Leben und Zusammenleben dient.

Beide Geister, der göttliche und der irdische, haben diese Grosszügigkeit verdient. Die anderen Zeitgeistteilnehmer:innen auch. Und schliesslich sollten wir sie uns selbst gönnen. Denn sie integriert auch die Erfahrung, dass unser Spiel mit dem Zeitgeist verunglücken oder scheitern kann. Vielleicht ist es dann an der Zeit, sich aus dem Spiel rauszunehmen, sich zu sammeln, um sich irgendwann wieder neu hineinzuwagen in das grosse Spiel der Geister.

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Hilfreiche und weiterführende Quellen

Zum Zeitgeist

Kirstine Fratz: Das Buch vom Zeitgeist. Und wie er uns vorantreibt, Basel 2021.

Kirstine Fratz: Dem Zeitgeist auf der Spur, in URL https://www.cfc.ch/beitrag/dem-zeitgeist-auf-der-spur/ (Stand 13.09.2024)

Kirstine Fratz und Andreas Loos: Eine kleine Theologie des Zeitgeistes, in URL https://www.reflab.ch/der-untergang-naht-zeit-fuer-freigespielte-hoffnung/ (Stand: 26.04.2024)

Podcast Geist.Zeit: Zeitgeist liebt Sehnsucht, in URL Zeitgeist liebt Sehnsucht | Fokus Theologie (Stand: 13.09.2024)

Podcast Geist.Zeit: Spirit Maker, in URL Spirit-Maker | Fokus Theologie (Stand: 13.09.2024)

Andreas Loos: Wie hast Du’s mit dem Zeitgeist? Erste Annäherungen, in URL Wie hast Du’s mit dem Zeitgeist? | Fokus Theologie (Stand: 13.09-2024).

Zum Spiel

Johan Huizinga: Homo Ludes. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek 262019.

Gerald Hüther; Christoph Quarch: Rettet das Spiel! Weil Leben mit als Funktionieren ist, München 62017.

Hugo Rahner: Der spielende Mensch, Einsiedeln 122016.

Jürgen Moltmann: Die ersten Freigelassenen der Schöpfung. Versuche über die Freude and er Freiheit und das Wohlgefallen am Spiel, München 61981.

Stefan Kiechle: Spielend leben, Ignatianische Impulse 34, Würzburg 2008.

Reinhold Bernhardt: Theologia ludens, in: ders. (Hg.): Theologische Samenkörner. Dem Lehrer Dietrich Ritschl zum 65. Geburtstag (Studien zur systematischen Theologie und Ethik, Bd. 1), Münster / Hamburg 1994, 60-70.

Michael Roth: Sinn und Geschmack fürs Endliche: Überlegungen zur Lust an der Schöpfung und der Freude am Spiel, Leipzig 2002.

Bausteine zum Weitermachen

Unsere Dossiers mit all ihren Beiträgen wollen dazu ermutigen, das jeweilige Thema in eigenen erwachsenbildnerischen Projekten, Angeboten oder Veranstaltungen mit anderen weiter zu verfolgen.

Intervention – Auf den Kopf stehen

Wenn wir schon über ein spielerisches Leben und einen spielerischen Umgang mit dem Zeitgeist sprechen, dann sollten wir das vielleicht auch auf spielerische Weise tun.

In einer Weiterbildung mit Anaïs Sägesser habe ich eine spielerische Methode kennengelernt und ausprobiert, die ich hier kurz übernehme:

Die Teilnehmer:innen notieren sich eine Frage, die für sie im Hinblick auf Zeitgeist wichtig ist. Dafür haben sie ca. 5 Minuten Zeit

Die notierten Fragen verbleiben für den nächsten Teil im Raum

Nun gehen die Teilnehmer:innen für die nächsten 20-25 Minuten aus diesem Raum – egal ob irgendwo im Gebäude oder draussen – und machen etwas Ungewöhnliches, etwas, das sie sonst nicht tun würden. “Do something weird”. Danach treffen sich alle wieder im Veranstaltungsraum.

 [Wenn die Teilnehmenden wieder da sind]

In Zweiergruppen finden sich die Teilnehmer:innen zusammen und widmen sich 5 Minuten pro Person den folgenden Fragen, wobei der Grossteil der Zeit auf die ersten beiden verwendet werden sollte.

  • Was hast Du gemacht?
  • Wer/ was ist Dir begegnet?
  • Was war Deine ursprüngliche Frage?
  • Was ist Deine Frage jetzt? Wie hat sich Deine Frage verändert?

Anschliessend nehmen sich alle ein paar Minuten Zeit, um etwas für sich selbst zu notieren und festzuhalten.

Weitere Erläuterungen zu dieser Methode gibt Anaïs Sägesser auf https://medium.com/@anaishannah/go-out-and-do-something-weird-eb660aa74117

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