Dieser Beitrag von Uwe Habenicht ist die praktische Ergänzung zur Geist.Zeit-Folge «Grüne Spiritualität – Abtauchen in der Natur«. Du findest hier praxiserprobte Vorschläge für Deine eigene Grünspiritualität. Wir hoffen, dass dadurch Deine Spiritualität lebendig bleibt oder angereichert wird. Und wenn Du Lust hast, einmal etwas Anderes oder Neues auszuprobieren, dann wirst Du hier fündig.
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Der eigenen Naturspiritualität auf der Spur: natürlich.achtsam.experimentell.
von Uwe Habenicht
Über Jahrhunderte haben sich Christinnen und Christen darin geübt, die Worte der Heiligen Schrift zu lesen, zu interpretieren und zu verstehen. Die Bibel ist zweifellos die zentrale Sammlung jüdisch-christlicher Erfahrungen mit Gott.
Und doch sollten Christenmenschen nicht nur geübt darin sein, in der der Bibel zu lesen, also das schwarze und weisse Feuer der Buchstaben zu deuten, sondern sie sollten sich auch darin üben, im vielfältigen und weiten Buch der Schöpfung zu lesen.
Genau dazu lädt Naturspiritualität oder Schöpfungsspiritualität ein. Tauchen wir ein in das Buch der Natur, um darin etwas von uns, von Gott und vor allem vom Zusammenklang der Geschöpfe mit ihrem Schöpfer zu entdecken.
Martin Buber schreibt dazu:
«Die Schöpfung ist keine Hürde auf der Bahn zu Gott, sie ist diese Bahn selbst. Wir sind miteinander erschaffen und aufeinander zu. Die Geschöpfe sind mir in den Weg gestellt, damit ich, ihr Mitgeschöpf, durch sie und mit ihnen zu Gott finde. Ein durch Ausschluss ihrer zu Erreichender wäre nicht der Gott aller Wesen, in dem sich alles Wesen erfüllt.» (Martin Buber, Das dialogische Prinzip, 218)
Echte Spiritualität ist somit immer Schöpfungsspiritualität, die andere Mitgeschöpfe nicht ausschliesst und sich von ihnen absondern, sondern mit ihnen zusammen zu Gott findet. Im Folgenden habe ich ein paar Vorschläge zusammen gestellt, die Lust zum Ausprobieren und Erproben machen sollen. Naturspiritualität lässt sich am besten in einer Gruppe erleben, weil dann Erfahrungsaustausch und gemeinsames Erleben Hand in Hand gehen. In der St. Galler Waldkirche „Waldgwunder“ erkunden wir seit vielen Jahren miteinander eine solche Schöpfungsspirtualität und werden dabei immer wieder von neuen Einsichten überrascht. Aber auch allein lassen sich erste Schritte gehen, die ja dann vielleicht auch Mut machen, sich Mitstreiterinnen und Mitstreiter zu suchen.
Einstimmung
Die folgende Übung kann draussen in der Natur, im Garten, auch im Zimmer bei geöffnetem Fenster gemacht werden:
Zu Beginn braucht es einen Moment der Stille und der Ruhe.
Ein paar kräftige Atemzüge verankern uns mit den Füssen fest auf der Erde und zugleich im Hier und Jetzt.
Dann schliessen wir die Augen und werden ganz Ohr. Was dringt an unser Ohr? Hören wir die Stille? Die Stille zwischen den Geräuschen? Was hören wir noch? Was bleibt im Hintergrund und ist doch da?
Nach einigen Minuten des Hörens machen wir eine Viertel Drehung und hören wieder in die Stille? Was ist jetzt anders?
Weitere Viertel Drehungen folgen, bis wir wieder am Ausgangspunkt und im Hier und Jetzt angekommen sind.
Diese Übung mit den Drehungen lässt sich auch sehr schön mit anderen Sinnen durchführen:
Was sehe ich?
Wie spüre ich Luftbewegungen und Kälte auf der Haut?
In der Natur meditieren
Nach wie vor bildet für mich Martin Luthers Vorschlag zur Schriftmeditation, die er das vierfache Kränzlein nennt, die hilfreichste Meditationsanleitung. In seiner Schrift „Eine einfältige Weise zu beten, für einen guten Freund“ von 1535 entwirft er nicht weniger als eine Kommunikationsanleitung, die uns durch ein Bibelwort ins Gespräch mit Gott bringt. Was er hier beispielhaft für ein Gebot vorführt, gilt für andere Schriftworte gleichermaßen:
„Und ich mache aus jeglichem Gebot ein vierfaches oder vierfach gedrehtes Kränzlein, so nämlich: Ich nehme jedes Gebot als eine Lehre an, wie es denn an sich ist, und denke, was unser Herr Gott so ernstlich von mir fordert. Zum zweiten mache ich eine Danksagung daraus , zu dritten eine Beichte, zum vierten ein Gebet.“ (Luther, Eine einfälige Weisse, 277).
Das Schriftwort wird also zuerst in seinem Gehalt (Lehre) erkundet, so dann werden Dank (Danksagung), eine selbstkritische Erkenntnis (Beichte) und schliesslich eine Bitte (Gebet) formuliert.
Dieses Modell soll nun auf das Buch der Natur übertragen werden. Wie wir bereits gesehen haben, lässt sich Meditation als Herstellung besonderer Bewusstseinszustände beschreiben. Wenn wir nun das Buch der Natur lesen, wird alles darauf ankommen, dass daraus eine leibliche Lesart wird.
Nicht nur wir lesen im Buch der Natur, sondern das Buch der Natur blättert gleichermaßen in uns, schlägt diese und jene Seite in uns auf. Naturmeditation erweitert den Focus vom Bewusstsein zum Leibsein, von Bewusstseinszuständen zu Leibzuständen.
Schauen wir uns nun genauer an, wie sich eine solche leibliche Lesart gestaltet. Es lassen sich sowohl umfassende Atmosphären als auch einzelne Naturobjekte meditieren.
Atmosphären meditieren
Inmitten der Natur stehen wir gut verwurzelt, spüren den Boden unter unseren Füssen und lassen die Arme am Körper locker dicht am Körper hängen. In dieser Haltung nehmen wir alles wahr, was unsere Sinne aufnehmen: Die Bewegung der Luft auf unserer Haut, Stille und Geräusche mit den Ohren, Gegenstände, Stimmungen, Lichteinfälle und Schatten mit den Augen, Gerüche mit der Nase, mögliche Geschmäcker im Mundraum. Und mehr noch als dies: Wir nehmen die Gesamtatmosphäre wahr, in der sich unser Leib befindet. Sie kann leicht und erhebend, drückend und düster oder neblig verschwommen sein.
Über die Sinne hinaus ist unser Leib umfangen und eingebettet in eine Atmosphäre. In diesem ersten Schritt nehmen wir all dies mit weiter Achtsamkeit wahr, ohne den Focus einzuengen. Wir geben der Gesamtatmosphäre mit der sie prägenden Gefühlsqualität einen Namen wie z.B.: Ich nehme den anbrechenden Tag, die Dunkelheit, die Schwere wahr.
Für die zweite Phase machen wir eine Vierteldrehung und winkeln die Unterarme mit nach oben geöffneten Händen langsam bis zu einem 45 Gradwinkel an. Ruhig atmend kommen wir in dieser Haltung an, nehmen wiederum uns und was uns umgibt wahr und formulieren, wofür wir in diesem Moment danken möchten: Ich danke dir, Gott, …
Wir machen wiederum eine Vierteldrehung und kreuzen die Arme auf der Brust. Unser Herzschlag wird in den Händen spürbar. Wir formulieren: Vor dir, Gott, erkenne und bekenne ich … In diesem Schritt ist Platz für alle Erkenntisse und Einsichten, in denen wir uns selbstkritisch gegenübertreten.
Wiederum drehen wir uns um ein Viertel, lösen eine Hand ein strecken sie wie in der zweiten Geste mit der Handfläche nach oben vor uns aus. Nun formulieren wir eine Bitte: Gott, ich bitte dich …
Zum Abschluss kehren wir zur Ausgangsausrichtung zurück und verneigen uns.
Varianten: Atmosphären können unmittelbar an einem ausgewählten Ort meditiert werden, auf einer Lichtung im Wald, am Seeufer, am Strand, im Garten, wo auch immer. Es ist aber auch möglich, zunächst gehend unterwegs zu sein und aufmerksam wechselnde Atmosphären wahrzunehmen – wie Temperaturunterschiede, anders einfallendes Licht, neue Ausblicke ecc. – und dann an solchen Übergängen stehen zu bleiben und mit der Meditation zu beginnen.
Eine weitere Möglichkeit besteht darin, thematisch mit einer Vorgabe zu beginnen, die an Jahreszeiten (Sommer, Herbst) Tageszeiten (anbrechender Tag, Zenit des Tages) Naturphänomenen (Regen, Nebel, Schnee) oder auch anderem wie etwa Licht, Leichtigkeit, Übergang oder Sprießen anknüpfen.
Selbstverständlich kann auch mit einer existentiellen Frage begonnen werden (Wo geht mein Weg weiter?/Wieviel Vertrauen bringe ich noch auf?) und nach einem eigneten Ort für die Meditation gesucht werden.
Einen Stein zum Sprechen bringen
Die folgende Übung verdankt sich einer Erzählung der amerikanischen Schriftstellerin Annie Dillard aus dem gleichlautenden Buch „Einen Stein zum Sprechen bringen“. In dieser Übung betreten wir den für Religion und Kultur gleichermassen wichtigen Zwischenraum, der zwischen einem Subjekt und einem Objekt entstehen kann und dabei die subjektiven und objektiven Grenzen überwindet. Es ist jener Zwischenraum, in dem die Frage „Hast du das erfunden oder gefunden?“ nicht gestellt wird.
Suchen Sie sich einen Stein, der Ihr Interesse weckt. Lassen Sie sich für diese Suche Zeit. Wenn Sie den richtigen Stein gefunden haben, erkunden Sie ihn zunächst mit den Augen und Händen, machen Sie sich mit ihm vertraut – auf langsame, aufmerksame und respektvolle Weise. Halten Sie ihn dann eine ganze Weile in der offenen Hand und atmen Sie mit ihm. Sie atmen die gleiche Luft wie er. Sie teilen sich den gleichen Raum. Lassen Sie den Stein anwesend sein. Legen Sie ihn dann vor sich hin, schliessen sie die Augen und atmen sie weiter mit dem Stein. Hören Sie ihm zu und spüren sie seine Gegenwart und wie seine Eigeschaften auch sie erreichen.
Gebet der Jahreszeiten des Lebens
Das folgende Körpergebet kann eine Meditationsphase in der Natur abschliessen oder auch als einzelnes Element verwendet werden.
Alles in dir, Gott,
du in allem.
Wende dich mir zu,
mit allem, was in mir keimt und wächst.
(Arme werden vor der Brust gekreuzt, Hände machen eine Faust, dann langsam öffnen und vor den Körper halten)
Pause mit einigen Atemzügen
Wende mich mir zu
Mit allem, was in mir blüht und Früchte trägt.
(Arme werden nach oben geführt wie eine wachsende Pflanze)
Pause mit einigen Atemzügen
Wende dich mir zu
Mit allem, was von mir abfällt und losgelassen sein will.
(Arme werden mit Handflächen seitlich nach unten geführt)
Pause mit einigen Atemzügen
Wende dich mir zu
Mit allem, was mit mir überwintert und bleibt, trotz Frost und Kälte.
(Arme werden mit geöffneten Händen wieder vor der Brust gekreuzt)
Pause mit einigen Atemzügen
Du wendest dich mir zu
mit deinem Versprechen:
„Solange die Erde steht
soll nicht aufhören
Saat und Ernte,
Frost und Hitze,
Sommer und Winter,
Tag und Nacht. “
(Arme werden entschränkt und seitlich des Körpers gehalten)
Du, Gott, in allem,
alles in dir. Amen.
Literatur
Uwe Habenicht: Draußen abtauchen. Freestyle Religion in der Natur, Würzburg 2022.
Foto von Scott Webb auf pexels.com