Die 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung in Deutschland
Zu Beginn dieser Woche wurden auf der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland die Ergebnisse der neuen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU VI) vorgestellt. Diese Untersuchungen, die Religiosität und Kirchenbindung empirisch erheben wollen, gibt es seit 1972 und sie werden im zehnjährigen Turnus durchgeführt.
Um es gleich vorweg zu sagen: Eigentlich enthält das Ergebnis der Studie nicht viele Aufreger, weil wir das meiste darin gewusst oder geahnt haben. Die Säkularisierung in Deutschland schreitet stark voran. Nur noch 13% der Bevölkerung sind kirchlich-religiös im engeren Sinne. 56% der Menschen verstehen sich als säkular. Dazu gehört auch ein Drittel der Kirchenmitglieder, wohingegen es umgekehrt nur einen kleinen Teil der Konfessionslosen gibt, der religiös ansprechbar ist. Die Aufregung entsteht vielleicht deswegen, weil uns die KMU VI wieder einmal etwas deutlich vor Augen stellt:
Angesichts einer sich beschleunigenden Säkularisierung der deutschen Gesellschaft befinden sich Religion und Kirche in einer recht ungesicherten Position, und diese Ungesichertheit wächst erkennbar.
Bereits in den ersten beiden Tagen hat sich in den Social Media eine hitzige und kontroverse Debatte entfaltet, wie die Ergebnisse der KMU zu bewerten sind und welche Konsequenzen daraus folgen. Allerdings ist diese Debatte ein reines Insidergespräch, was sie qualifiziert, jedoch nicht disqualifiziert.
Ich möchte mich auf drei Punkte konzentrieren. Ich habe dazu in den letzten beiden Tagen auf meinem Facebook Account einige Statements abgegeben. Ich habe diese Statements überarbeitet und ergänzt und stelle sie hier gerne zur Diskussion.
Kirche und Politik
In den letzten Monaten gab es innerhalb der EKD eine intensive Debatte, ob überhaupt und inwiefern sich die Kirche auf NGOs wie «Fridays for Future» oder «United4Rescue» einlassen dürfe. Hier gibt die Studie klare Entspannungssignale.
Nur eine Minderheit ist der Ansicht, dass die Kirchen sich auf rein religiöse Fragen und Angelegenheiten beschränken sollen.
Bei möglichen Massnahmen zur Verhinderung von Kirchenaustritten landet dieser Vorschlag auf dem letzten Platz. Eine eindeutige Mehrheit befürwortet, dass sich Kirche auch zu politischen Fragen äussert. 73% der Konfessionslosen, 77% der evangelischen und 80% Prozent der katholischen Kirchenmitglieder stimmen der These zu: «Die Kirchen sollten sich konsequent für Geflüchtete und die Aufnahme von Geflüchteten einsetzen.» (KMU VI, S. 54) Dass die Kirchen in der Öffentlichkeit Hilfsangebote für Menschen mit Lebensproblemen vorhalten sollten, finden sogar 92% der katholischen und 95% der evangelischen Kirchenmitglieder; und selbst 78% der Konfessionslosen (KMU VI, S. 53).
Man hat den Eindruck, dass Kirchenvertreter:innen von der Klarheit dieses Ergebnisses irgendwo überrascht wurden. Immerhin jetzt liegt das Ergebnis in Zahlen vor.
Religion – Säkularisierung oder Individualisierung?
Die KMU konstatiert gegenüber den Vorgängeruntersuchungen eine zunehmende sowie sich beschleunigende Abnahme von Religiosität. Über die Frage, ob das Ergebnis durch den methodischen Ansatz der Studie bereits vorweggenommen wurde, ist ein heftiger Streit entbrannt. Es war schon bemerkenswert, dass gleich nach Veröffentlichung der Studie sich drei Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirates in einem kritischen Beitrag zu Wort meldeten. Sie sahen das Säkularisierungsparadigma methodisch gegenüber der Theorie der zunehmenden Individualisierung der Religion privilegiert. Was verbirgt sich hinter diesem Streit?
Als meine Generation mit dem Studium um 1968 begann, war praktisch-theologisch die Perspektive der klassischen Säkularisierungsthese bestimmend mit der Kernaussage:
Je moderner und ausdifferenzierter eine Gesellschaft ist, umso weniger wird in ihr Religion anzutreffen sein.
Das Buch von Harvey Cox „The Secular City“ (1966 – im Deutschen hatte das Buch den Titel „Stadt ohne Gott?“) war für uns Studierende damals Kultbuch. Ein Spitzensatz in diesem Buch lautete: „Wir müssen die Säkularisation lieben!“
Ich denke, die deutschsprachige Theologie war für diese Perspektive besonders empfänglich wegen der theologischen Vor-Geschichte:
- die theologische Delegitimation des Religionsbegriffs durch die frühe Dialektische Theologie
- das theologische Programm des späten Bonhoeffer einer „nicht-religiösen Interpretation“ der biblisch-christlichen Überlieferung
- die theologische Qualifikation der geistesgeschichtlichen Säkularisierungsprozesse durch Friedrich Gogarten (und Dorothee Sölle, die Gogarten-Schülerin war!)
Die Sicht der Säkularisierungsthese war bis in die frühen 1980er-Jahre hinein vorherrschend. Dann begannen wir plötzlich überall wieder Religion zu entdecken, vielleicht sage ich sogar besser: Religion zu „erschnüffeln“ bis hin zum Museum als „heiligem Ort“ und dem Samstagnachmittag als „heiliger Verehrungszeit des Fussball-Gottes“.
Auch diese Sicht hatte ihre zeitgenössischen Hintergründe: Die gerade vor allem durch Ulrich Beck entwickelte Theorie der Individualisierung, das Buntheits-Paradigma der Postmoderne, sowie das Erstarken der Religionswissenschaft mit ihrem eigenen Blick auf Phänomene des Religiösen.
Diese Sicht war getragen von einer bestimmten Gewissheit:
Zwar verwandelt sich die Religion in Richtung Entinstitutionalisierung und Individualisierung; aber irgendwie bleibt die Gesamtsubstanz an religiösem Gehalt in der Gesellschaft erhalten.
Diese Sicht wurde nun wiederum in den letzten 10 bis 15 Jahren fraglich. Haben wir nicht ein Zuviel an Religion „erschnüffelt“? Als ein schönes und tröstliches, aber eben doch Gedanken-Narkotikum? Und plötzlich geht es wieder um – das Gespenst der Säkularisierung.
Ich denke, es ist in der Tat so, dass wir es gegenwärtig mit einer doppelten Entwicklung zu tun haben: Mit der Individualisierung von Religion, aber eben auch mit dem Verlust von religiöser Erfahrung und Empfindsamkeit. Ein wichtiges empirisches Indiz sind die Selbstaussagen zum Gebet. Noch um das Jahr 2000 konnten wir in unserer damaligen Ökumenischen Kirchenstudie in Basel erheben, das ca. 75% der Basler Bevölkerung von sich sagt, sie beteten zumindest gelegentlich. Und diese Werte sind seitdem kontinuierlich bis hin zur neuesten KMU geschrumpft. Und das ist für mich schon ein (ein!) Erkennungszeichen dafür, dass die religiöse Musikalität in unseren Breiten merklich zurückgeht.
Konzentration oder Öffnung?
Der am meisten kontroverse Streit wird sicher um die Frage entbrennen, welche Konsequenzen aus den Ergebnissen der Studie für die kirchliche Praxis zu ziehen sind. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass sich ein Mitglied der Forschungsgruppe, nämlich Detlef Pollack, mit einem recht polemischen Artikel unter dem Titel «Theologen auf dem Holzweg» in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu Wort gemeldet hat. Er sieht mit den Ergebnissen das Ende aller Bemühungen und Annahmen Liberaler Theologie gekommen.
Detlef Pollacks Resümee lautet, dass sich Theologie und Kirche „stärker als bisher auf die Sinnformen einer innerkirchlichen Religiosität einlassen muss“.
Dem folgte auf der Stelle Widerspruch. Von einer «hidden Agenda» der KMU war die Rede, die die kirchliche Praxis wieder in das Prokrustesbett einer traditionellen kirchlichen Frömmigkeit zwingen wolle. Doch auch hier ist vor falschen Alternativen zu warnen.
Dazu hat die badische Landesbischöfin Heike Springhart auf dem Facebook-Account der Evangelischen Landeskirche in Württemberg ein wichtiges Votum abgegeben. In ihrem kurzen Statement hat sie die notwendige „Sprachfähigkeit“ der Kirche in den Vordergrund gerückt.
Dem kann ich nur zustimmen, nicht zuletzt deshalb, weil dieser Hinweis hilft, von vornherein einen Kurzschluss zu vermeiden, der jetzt bereits in manchen Stellungnahmen zur KMU anklingt:
Wir dürfen nicht die Konzentration auf das „Eigentliche“ und die „Öffnung nach aussen“ als Alternative ansehen.
Dazu greife ich auf eine Aussage eines der Väter des schwäbischen Pietismus zurück, der einmal sinngemäss gesagt hat: Wenn ein Mensch in seinem Leben auch nur einmal eine evangelische Predigt gehört habe, müsse in dieser Predigt alles enthalten sein, was zu seiner ewigen Seligkeit notwendig sei. Wir würden das wohl heute so nicht mehr in diesen Worten sagen. Aber ich habe in meinen Homiletischen Seminaren immer betont:
Unsere Gottesdienste und Predigten müssen so gestaltet sein, dass jede:r, der/die diesen Gottesdienst besucht, etwas vom Evangelium gespürt und geschmeckt haben müsse – auch wenn er/sie zum ersten Mal gekommen ist.
Dazu gehört aber vor allem Sprachfähigkeit. Heute besteht diese notwendige Sprachfähigkeit in einer Mehrsprachigkeit. Eine Mehrsprachigkeit, die sich sowohl auf die Sprache und Symbole des überlieferten biblisch-christlichen Erfahrungswissens versteht, wie auf die Sprache(n) unserer Gegenwart. Das heisst aber: Gerade wer an diesem überlieferten Erfahrungswissen des christlichen Glaubens und seiner Tradierung interessiert ist, muss sich für unsere Gegenwart öffnen. Und deshalb führt die Alternative von Konzentration auf das Wesentliche und Öffnung hin zu den Lebenswelten in die Irre.
Ein kleines Nachwort in eigener Sache als langjähriger, praktisch-theologischer, universitärer Lehrer:
Diese Mehrsprachigkeit zu üben, ist eine hohe Kunst und Profession, zu der es einer gründlichen Ausbildung bedarf.
In welchem Verhältnis diese „Profis“ dann zu denen stehen, die – in welcher Dichte und Häufigkeit auch immer – an Kirche interessiert sind, ist eine andere aber damit keineswegs belanglose Frage.
Und in der Schweiz?
Die Stellung der Schweizer Kirchen in Gesellschaft und Politik ist gegenüber den Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland doch recht verschieden. Das habe ich bei meinem Weg aus Deutschland in die Schweiz vor 25 Jahren sofort intensiv empfunden. Nach der moralischen und menschlichen Katastrophe der Verbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus haben die Väter und Mütter der neuen deutschen Verfassung den Kirchen eine starke, rechtlich gesicherte Position eingeräumt.
Die Kirchen in Deutschland sollten ein starkes Gegengewicht sein gegenüber dem Staat, sollte dieser je wieder in Versuchung kommen, eine weltanschauliche Dominanz anzustreben.
Auch genoss die Kirche aus ihrem (partiellen) Widerstand gegenüber dem nationalsozialistischen Regime eine gewisse moralische Autorität. Davon zehren die Kirchen noch heute, auch wenn diese „Privilegien“ merklich dahin schmelzen.
Ganz anders die Lage in der Schweiz, wo gegenwärtig in rechtlicher Hinsicht die Modelle in den einzelnen Kantonen von einer öffentlich-rechtlichen Struktur bis hin zu privatrechtlichen Organisationsformen variieren. Auch sind in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit die Nachwirkungen eines antiklerikalen und religionskritischen politischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts stark zu spüren.
Mir scheint die Rolle von Religion in der Gesellschaft der Schweiz sehr viel ungesicherter zu sein als in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland.
Vielleicht könnte das aber auch ein Startvorteil für die Zukunft sein! Noch gibt es in Deutschland innerhalb der kirchlichen Organisationen eine Verkrustung, die es so in der Schweiz schon immer weniger gegeben hat. Was wir allerdings an Herausforderungen teilen, vor welche die neue KMU die Landeskirchen in Deutschland stellt, ist die aktuelle Aufgabe: Der Botschaft wie der Gestalt von Kirche für unsere Gegenwart eine lebensdienliche Ausrichtung zu geben.