Bessere Theologie

Rezension zu Hanna Reichels Buch „After Method“. Von Thorsten Dietz

Schon lange habe ich kein neues theologisches Buch mehr wie dieses gelesen mit dem Gefühl: Ja genau! In diese Richtung möchte ich weiterdenken! Hanna Reichels Buch „After Method“ ist eine Ermutigung für alle, denen die Erneuerung der Theologie am Herzen liegt.

Theologie in der Krise

Dass sich die Theologie in einer Krise befindet und das weltweit, wird kaum jemand bestreiten wollen. Ausgangspunkt ist die vielfache Beobachtung, wie stark sich Theologie und christliche Praxis auseinanderentwickelt haben. Hanna Reichel kennt dieses Leben in zwei Welten aus eigener Erfahrung. Auf der einen Seite hat Reichel an renommierten deutschen Universitäten studiert, eine preisgekrönte Dissertation über Karl Barth vorgelegt und zuletzt eine Professur in Princeton erhalten, weltweit eine der bekanntesten Ausbildungsstätten theologischer Wissenschaft. Auf der anderen Seite hat Reichel viele Jahre kirchlich-soziale Praxis in Argentinien kennengelernt, wo Befreiungstheologie keine Theorie, sondern tägliche Praxis an der Seite der Marginalisierten war. In Princeton macht Reichel die Erfahrung, dass es vielen Studierenden ähnlich geht: Obwohl sie bereits Theologie studieren, ist die Verunsicherung riesig. Welchen Zweck hat eine Theologie, deren Inhalte oft sehr weit entfernt sind von jeder Form christlichen Engagements?

Der Riss durch die Theologie

Was ist mit dem Titel „After Method“ gemeint? Mitnichten ein Verzicht auf wissenschaftliche Methodologie im engeren Sinne. Es geht vielmehr um den Ansatz der Theologie und ihre Leitlinien insgesamt (47).

Im Blick auf den grundsätzlichen Ansatz geht durch die gegenwärtige Theologie ein Riss. Reichel benennt die gegensätzlichen Tendenzen mit den Begriffen „Systematic Theology“ und „Constructive Theology“. Beides lässt sich nicht unmittelbar ins Deutsche übersetzen. Im deutschsprachigen Kontext würde man am ehesten von Dogmatik und Kontextueller Theologie (befreiungstheologische, queere oder feministische Ansätze) reden. Nicht selten scheint das Gegenüber die Notwendigkeit einer Wahl zu implizieren: Entweder wissenschaftliche Theologie, dann mit gebührendem Abstand zur Praxis. Oder eine engagierte Form der Theologie, dann aber ist die klassische akademische Theologie vielfach keine Hilfe. Solche Gegenüberstellungen sind bestenfalls Idealtypen, schlimmstenfalls Karikaturen, wie Reichel sehr gut weiss (12).

Reichels Frage lautet: Lässt sich diese Spannung konstruktiv überbrücken bzw. wenigstens fruchtbar diskutieren? In „After Method“ bringt Reichel zwei Entwürfe miteinander ins Gespräch, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Karl Barth mit seiner an Bibel und Reformation orientierten Theologie, ein theologischer Entwurf, der auf zehntausenden von Seiten von allem handelt. Und die argentinische Theologin Marcella Althaus-Reid, die mit wenigen Studien über «unanständige Theologie» (Indecent Theology, 2000) und die Queerness Gottes (The Queer God, 2003) Kirche und Theologie provoziert.

Theologie kann auf sehr unterschiedlichen Wegen die Realität verfehlen. Daher schlägt Reichel vor, nicht von der Frage nach dem richtigen Ansatz auszugehen, sondern einmal umgekehrt anzufangen: Welche Wirkung hat Theologie? Wer wird verletzt? Und wer findet Orientierung? Was sind biblisch gesprochen ihre Früchte (Mt 7,16)?

Ausgangspunkt ist dabei eine Kurzformel von Kevin Garcia: „Bad theology kills.“ (1) Dieser Satz handelt nicht von einer schlimmstmöglichen Gefahr der Theologie, sondern von einer vielfach erlittenen Realität. Theologie kann verletzen und mehr. Theologische Gedanken werden weltweit benutzt, um Menschen auszugrenzen und Kirchen zu spalten. Wo die Realität menschlichen Lebens ignoriert oder verzeichnet wird, da kann Theologie tödliche Konsequenzen haben. Keiner Theologie sollten solche Vorwürfe gleichgültig sein. Obwohl sich „After Method“ weitgehend an dogmatischen Fragestellungen orientiert, ist es auch ein ethisches Buch, bzw. besser: Ein Entwurf zu einer Ethik der Theologie.

Kontext, Kontext, Kontext

Der Hauptvorwurf kontextueller Theologien an die klassische Dogmatik lautet, dass diese mit dem Anspruch auf ihre eigene Wissenschaftlichkeit (bzw. Schriftgemässheit, Lehramtstreue etc.) ihre eigene Kontextualität unzureichend reflektiert. Befreiungstheologien haben es vielfach gezeigt, wie sich klassische Theologie um eine Reflexion des Glaubens bzw. der Religion bemüht, die das Leiden vieler Menschen ignoriert.

In einigen Strängen der modernen Theologie ist es durchaus zu Neubesinnungen gekommen. Geblieben ist oft ein Selbstverständnis der westlichen Systematischen Theologie, in dem diese sich kraft ihres wissenschaftlichen Ansatzes als Norm für alle versteht. Im Unterschied zu sich selbst kann sie besondere Formen von Bindestrich-Theologien, Feministische, Politische, Queere Theologie etc. nur als Spartenprogramm für Sondergruppen eine gewisse Berechtigung zuerkennen. Zuletzt aber sieht sie sie als jeweils ergänzende Perspektive – und eben nicht als wissenschaftliche, kirchliche Theologie.

Als Kenner:in beider Welten hält Reichel dieses Selbstbewusstsein für illusionär. Auch die unterschiedlichen Formen Systematischer Theologie haben ihre kontextuellen Einbettungen und partikularen Perspektiven – nur dass sie sich vielfach weigern, ihre eigene Positionalität ausdrücklich zu reflektieren (38).

Die vermeintlich allgemeine Theologie ist allzu oft auch ein Spartenprogramm, für gutsituierte, weiße Bürger. Und anpassungsfähige Bürgerinnen.

Ist für Reichel also längst entschieden, dass es nichts anderes als kontextuelle Theologie gibt? Dass jede Perspektive in bestimmten Kontexten involviert und so oder anders engagiert ist und sich nur die Frage stellt, ob die eigenen Voraussetzungen bewusst reflektiert werden? Kurz: Dass jede Theologie kontextuelle Theologie ist? Grundsätzlich ja. Aber auch für die bisherigen Ansätze Kontextueller Theologie formuliert Reichel Herausforderungen.

Die Gefahr vieler kontextueller Perspektiven besteht darin, in der Negation zu verbleiben (89ff.), in der reinen Kritik patriarchaler, hegemonialer Perspektiven und in der Überzeugung, dass die Überwindung repressiver Normen die entscheidende Herausforderung sei.

Die Kritik der kontextuellen Theologien an vielen rigiden Ordnungsvorstellungen der Kirche und der Gesellschaft ist für Reichel nur allzu berechtigt. Problematisch wird es da, wo die kritische Auseinandersetzung zu einer grundsätzlichen Bestreitung von Normen führt. Im Anschluss an Barths berühmte Unterscheidungen gibt Reichel zu bedenken: Wo Dogmatismus das Problem ist, ist Kritizismus noch lange nicht die Lösung. Es gibt kein Leben jenseits strukturierender Ordnungen. Normen engen nicht nur ein, sie schützen auch und ermöglichen Leben in Freiheit. Normen sind grundsätzlich flexibel, können geweitet und angepasst werden. Auch die Bestreitung von Normen bleibt oft noch in einem binären Ansatz stecken. (139)

Überrascht von Gnade

Auch die kontextuellen Theologien stehen vor der Herausforderung. So wie sich die Systematische Theologie vielfach gegenüber kritischen Anfragen von Seiten der Kontextuellen Theologie immunisiert hat, so gibt es das auch umgekehrt, beispielsweise gegenüber der Frage nach der eigenen theologischen Position (46, 48). Theologie hat es am Ende immer mit dem Unverfügbaren zu tun, was wir Gnade nennen. Gnade ist oft das Unerwartete, vielfältig und unbestimmbar. Gnade ist queer. Diese Zuspitzung entnimmt Reichel Marcella Althaus-Reid (112ff.). Die argentinische Theologin hat in ihrem Klassiker „Indecent Theology“ (2000) („Unanständige Theologie“) gezeigt, wie stark klassisch-konservative Theologie das reale Leben unzähliger Menschen abwertet oder ignoriert.

Ausserhalb der Grenzziehungen der Wohlanständigen, dort, wo es ihren Urteilen nach nur Perversitäten und Verkommenheit gibt, findet das Leben vieler Menschen statt. Und inmitten vieler Unvollkommenheiten machen sie Erfahrungen der Gnade, der Güte und der überwältigenden Bejahung. Diese Erfahrungen sind längst da – und werden allzu oft theologisch ignoriert.

Bessere Theologie

Was ist gute Theologie? Von dieser Frage war die Theologie der letzten Jahrzehnte in problematischer Weise getrieben. Auf unterschiedlichsten Wegen ging es um gute Theologie – vor allem um den richtigen Ansatz. „Theology as a discipline has been busy for decades, frantically searching for just the right way, just the angle, just the methodological innovation or restoration that would solve its crises of identity and relevance” (77). Seit Jahrzehnten wird gerungen um Theologie, die von oben denkt oder von unten, die Offenbarung zum Ausgang nimmt oder Religion, liberal oder konservativ ansetzt. Diesem Methodenstreit setzt Reichel entgegen: Keine Methode, kein richtiger Ansatz wird uns retten.

„Grace cannot be turned into a method.“ (157)

Die klassische Konzentration der Theologie auf den richtigen Ansatz fordert Reichel durch einen Vergleich mit der Praxis des Designs hinaus. Design ist immer im Spiel. Und Design ist nie absolut. Design steht stets vor der Aufgabe der Vermittlung, zwischen den Materialien und den Bedürfnissen und Möglichkeiten derer, für die etwas erstellt wird. Schlechtes Design (von Häusern, Möbeln etc.) erkennt man daran, dass das Ergebnis aller Qualität der Materialien zum Trotz nicht benutzerfreundlich ist. Vor allem aus diesem Phänomen der Designfehler können Theolog:innen lernen.

Das Ziel einer absolut richtigen Theologie hat allzu oft zu ideologischen Denkgebäuden geführt, die sich gegen jede Kritik im Namen ihres richtigen Ansatzes immunisieren.

Nicht gute Theologie, sondern bessere Theologie sollte das Ziel sein. Theologie kann nie vervollkommt werden. Aber diese Einsicht sollte uns nicht den Ansporn nehmen, Theologie wenigstens zu verbessern. Insofern sollte auch die Alternative von dogmatischer und kontextueller Theologie nicht in „richtig oder falsch“ aufgelöst werden.

Dies gilt gerade auch für den Vergleich von Barth und Althaus-Reid. Denn allen Unterschieden im Ansatz zum Trotz erweisen sich die Entwürfe von Barth und Althaus-Reid als erstaunlich gut verbindbar. Reichel zeichnet nach, wie Barths Theologie aller dogmatischen Auskunftsfreude zum Trotz genau um die Grenzen jeder möglichen Theologie weiss.

Gott geht nie auf in den Bildern, die unser Denken sich von ihm macht.

Auch Althaus-Reid gibt bei aller Treue zu den wirklichen Menschen die grossen Begriffen der Theologie nicht auf: Wie erfahren die Menschen Gnade, die aus ihren Kirchen längst exkommuniziert wurden? Wie lässt sich von Gott und Jesus Christus jenseits dogmatischer Stereotypien reden? Will Theologie nicht in der Pflege der eigenen Tradition erstarren, sondern heutigen Menschen dienen, benötigt sie nach Reichel mehr Mut zu theologischer Experimentierfreude und zu spielerischem Entdeckergeist (157ff.).

Realistische Theologie

Mit der Rede von einer Realistischer Theologie formuliert Reichel das Anliegen einer doppelten Treue: zur Realität Gottes und zur menschlichen Erfahrungswirklichkeit. Dabei ist die jeweilige Bedeutung von realistisch durchaus schillernd. Realistisch ist die Theologie im Sinne von Althaus-Reid dort, wo sie menschliche Lebenswirklichkeit weder verleugnet noch marginalisiert.

Sexualität, Geschlecht, Lebensformen sind vielfältiger, als vor allem in traditioneller Theologie denkbar war. „Realistisch“ muss zuletzt auf die herrschenden Machtverhältnisse bezogen werden. Wer definiert die Grenzen des Anstandes? Wer hält wen mit welchen Gründen draussen?

Noch einmal anders ist es um den Anspruch des Realistischen mit Blick auf Gott bestellt. Reichel redet in „After Method“ immer wieder sehr robust von klassischen Koordinaten wie Sünde und Gnade, Inkarnation, Kreuz und Auferweckung, in einer Weise, die aus der Sicht Liberaler Theologie als (neo-)orthodox oder gar naiv erscheinen könnte.

Am Anfang und am Ende beruft sich Reichel auf die bekannte Formel von Philipp Melanchthon: Das heisst Christus recht erkennen: seine Wohltaten zu erkennen (vgl. 13; 250).

In dieser Formel geht es um die Gnade gewissermassen in einer Art Grundgestalt, in der Einheit von Ereignis und Verheissung, noch diesseits aller theologischen Verarbeitung als Lehre. Als solche geht die Gnade aller Theologie voraus. Damit hat sie eine andere Art von Realität als die menschliche Lebenswirklichkeit. Aber wer weiss – vielleicht ist gerade dieses vermeintlich naive Ausgehen von christlicher Gottesrede längst das Pendant zum „unanständigen Leben“ im Sinne Althaus-Reids?

Verwegene Theologie

Theologie lässt sich heute nicht mehr ohne Verwegenheit begründen, davon war der junge Karl Barth überzeugt. Wenn das stimmt, ist Hanna Reichel mit „After Method“ auf einem vielversprechenden Weg. Wer es verstanden hat, weiss: Auch „After Method“ kann und wird die Theologie nicht retten. Aber kann es sie besser machen? Kann die Lektüre systematischen Theolog:innen helfen, die eigene Kontextbedingtheit ehrlicher mitzudenken? Und kontextuellen Theolog:innen Mut machen, sich die grossen Erzählungen von Gott nicht nehmen zu lassen? Ja, ja und ja!

Rezension von Hanna Reichel, After Method. Queer Grace, Conceptual design, and the possibility of theology. Louisville/Kentucky: Westminster John Knox Press 2023.