Im Land der tödlichen Gerechtigkeit
Stell dir vor, du sitzt in der S-Bahn. Die Fahrkartenkontrolleurin kommt den Gang entlang. Der Mann neben dir hat kein Ticket. Sie sagt kein Wort, zieht eine Pistole und erschießt ihn. Das ist das „gerechte“ Gericht.
Später steigst du an deiner Haltestelle aus. Ein paar Meter weiter siehst du, wie ein 14-jähriger Junge gerade versucht, ein Handy zu stehlen. Er rennt davon. Doch an der nächsten Ecke holt ihn der Verkäufer ein. Er hält ihn fest, entreißt ihm das Handy und schießt ihm in den Kopf. Das ist das „gerechte“ Urteil.
Du gehst weiter, betäubt vom Erlebten. Zu Hause angekommen, schließt du die Tür, setzt dich auf die Couch, die Tiefkühlpizza auf dem Schoß, da klopft es. Zwei Polizisten stehen davor. Der eine sagt: „Uns wurde gemeldet, dass Sie gelogen haben.“ „Wann?“, fragst du. „Als Ihr Chef fragte, ob Sie am Wochenende arbeiten können, sagten Sie, Sie würden Ihre Eltern besuchen. Aber Sie waren das ganze Wochenende zu Hause.“ Du schluckst. Ja, du hast gelogen. Du warst einfach müde. Der Polizist zieht die Pistole und schießt. Das ist das „gerechte“ Urteil.
So sieht Gerechtigkeit in dieser Welt aus. Jede Verfehlung – ob Bagatelldelikt oder Kapitalverbrechen – endet mit dem Tod. Keine Unterscheidung, keine Verhältnismäßigkeit, keine Gnade. Immer dieselbe Strafe: Kopfschuss. Das ist das Gesetz.
Klingt absurd? Unvorstellbar? Eine dystopische Albtraumwelt? Ja! Und doch ist genau das die Vorstellung vieler Höllenprediger: ein Gott, der nicht unterscheidet zwischen einem Mord und einer Notlüge, zwischen Massenfolter und Musik-Download. Alle haben gesündigt. Also müssen alle sterben. Das ist das „gerechte“ Urteil.
In vielen evangelikalen Traktaten beginnt das „Evangelium“ mit der Frage: „Hast du schon mal gelogen?“ Wer zustimmt, gilt als Lügner. Und Lügner – so wird gesagt – verdienen den Tod. Denn der Lohn der Sünde ist der Tod. Punkt. Das ist Gerechtigkeit. Eine Gerechtigkeit ohne Nuancen, ohne Erbarmen. Jeder Verstoß ist tödlich. Alle Schuld ist gleich. Die Strafe ist immer dieselbe: ewige Verdammnis.
Das traurige Evangelium einer strafenden Gerechtigkeit
Die Deutung des Kreuzes als stellvertretendes Strafgericht – als Blutpreis für verletztes Recht – ist populär. In einem Buch, das sich über 15 Millionen Mal verkauft hat, schreiben die evangelikalen Autoren Josh und Sean McDowell:
„Jesus war Gott und Mensch zugleich. […] Es stand daher in seiner Macht, die Sünde der Welt auf sich zu nehmen. Als er sich vor mehr als 2000 Jahren ans Kreuz schlagen ließ, nahm Gott seinen Tod als Ersatz für unseren Tod an. Der göttlichen Gerechtigkeit war Genüge getan. Das Recht war wiederhergestellt; die Strafe war bezahlt. Man könnte auch sagen, dass Gott damit ‚frei‘ wurde, den Menschen wieder mit Liebe zu begegnen. […] Christus starb nicht nur für uns, sondern auch für den Vater. […] Als Jesus am Kreuz starb, starb er nicht nur für uns, sondern auch, um den heiligen und gerechten Anforderungen des ureigensten Wesens Gottes zu entsprechen.“ (McDowell 2010, 190f.)
Was für ein Gottesbild steht hinter solchen Sätzen? Ein Gott, der ein Problem hat. Ein Gott, der erst durch den Tod seines Sohnes „frei“ wird, wieder lieben zu können. Ein Gott, der nicht lieben darf, bevor Blut fließt. Ein Gott, der nicht einfach vergeben kann, sondern erst ein Exempel statuieren muss. Einer, der getrieben ist von höheren Prinzipien.
Man fragt sich unwillkürlich: Wer ist dieser Gott? Und wessen Bild ist das eigentlich? Es ist das Bild eines kosmischen Buchhalters. Ein emotionsloser Beamter, der mit stoischer Kälte Schuldscheine verwaltet. Er darf nicht einfach vergeben, er muss abrechnen. Mit biblischen Gottesbildern ist keine Vorstellung so unvereinbar wie diese. Wenn Gott in der Bibel eines nicht ist, dann ein rechnender Verwalter heiliger Pflichten.
Die Vorstellung, dass der göttlichen Gerechtigkeit nur durch einen Tod „Genüge“ getan werden könnte, ist theologisch fragwürdig und biblisch unhaltbar. Nirgends in der Bibel heißt es, dass ein blutrünstiger Gott durch ein blutiges Opfer besänftigt werden müsste. Ganz im Gegenteil: Die zentrale Botschaft des Neuen Testaments lautet nicht, dass Gott versöhnt werden muss, sondern – genau umgekehrt! – dass Gott der Versöhnende ist: „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selbst“ (2 Kor 5,19).
Nicht Gott hatte ein Problem. Die Welt hatte eines. Nicht Gott musste versöhnt werden. Die Welt musste zur Versöhnung finden. Gott hängt nicht am Kreuz, weil er zornig ist, sondern weil er liebt. Er stirbt nicht, weil sein Recht es verlangt, sondern weil seine Liebe keinen anderen Weg gehen kann.
Was viele Gemeinden Sonntag für Sonntag predigen, ist keine gute Nachricht. Es ist eine gefährliche Umkehrung des Evangeliums: Nicht mehr Gott ist der Handelnde, sondern das „Gesetz“. Nicht mehr Liebe steht im Zentrum, sondern Strafe. Der Kreuzestod wird zur göttlichen Notwendigkeit erklärt – statt zur frei gewählten Hingabe. Ein Gott aber, der nur dann lieben kann, wenn erst jemand stirbt, ist nicht frei – er ist gefangen. Ein solcher Gott ist strenggenommen gar kein Gott, weil er einem höheren Gesetz untertan ist. Ein solcher Gott ist erst recht nicht barmherzig. Und ein solcher Glaube hat keine frohe Botschaft, sondern ein tödliches Gesetz.
„Ich richt mein Sach“ – auf dem Weg zu einem biblischen Verständnis von Gericht
„Ich richt mein Sach.“ Diesen Satz hörte ich während meiner Zeit im Schwabenland ziemlich oft. „Ich richt mein Sach“ – das heißt so viel wie: Ich mache etwas fertig. Ich bereite etwas vor. Ich bringe etwas in Ordnung. Ein Schwabe sagt das, wenn er seine Tasche packt, bevor er das Haus verlässt, oder wenn er seinen Schreibtisch aufräumt.
Als meine Frau, gebürtige Schwäbin, das erste Mal zu mir sagte: „Ich richt den Tisch“, war ich ehrlich gesagt irritiert. Vielleicht sogar leicht beunruhigt. Denn als Christ klingt das Wort „richten“ in meinen Ohren zunächst bedrohlich. „Richten“ – das heißt dann: verdammen. „Richten“ – das ist, wenn Gott jemanden in die Hölle wirft.
Und nun meine Frau, die fröhlich verkündet, sie richte den Tisch. Ich musste lernen: Das meint nicht, dass sie ihn zerschlägt oder verbrennt. Es heißt ganz einfach: Sie deckt ihn. Sie macht ihn schön. Sie bereitet ihn für ein gemeinsames Mahl.
Als mein Schwiegervater uns eine Kaffeemaschine schenkte, sagte er: „Die ist gerichtet.“ Ich war wieder kurz verwundert. Doch was er meinte, war: Sie ist repariert. Die alte war kaputt, diese hier aber ist wieder heil. Gerichtet, im besten Sinn. Eine gerichtete Kaffeemaschine ist keine verdammte, sondern eine funktionierende. Eine, die wieder tut, was sie soll.
Und wenn meine Frau morgens sagt: „Ich richt mich“, dann meint sie damit nicht den Freitod, sondern dass sie jetzt ins Bad geht, sich fertigmacht, sich schönmacht.
In einer Predigt sagte ich einmal zu den Schwaben: Euer Sprachgebrauch ist näher an der Bibel als mancher theologischer Kommentar. Denn in ihrem Alltag ist das Wort „richten“ durchweg positiv besetzt. Es bedeutet: zurechtbringen, ordnen, heilen, vorbereiten. Ein gerichteter Tisch ist ein gedeckter Tisch. Eine gerichtete Kaffeemaschine ist eine reparierte Kaffeemaschine. Ein gerichteter Mensch ist einer, der sich hergerichtet hat, nicht einer, der vernichtet wurde.
Was wäre, wenn wir diesen Sinn auch auf Gottes Gericht übertragen? Wenn „richten“ nicht zerstören hieße, sondern zurechtbringen? Nicht verurteilen, sondern heilen? Nicht verdammen, sondern vorbereiten – auf das große gemeinsame Mahl?
Die rettende Gerechtigkeit Gottes
Wer über das kommende Gericht klare theologische Aussagen machen will, muss zwei Fragen stellen:
- Was ist die Gerechtigkeit, mit der gerichtet wird?
- Wer ist der Richter?
Wenn wir diese beiden Fragen beantworten können, lässt sich das Jüngste Gericht nicht mehr nur als nebulöse Spekulation behandeln. Denn was kommt, ist uns verheißen. Und das bedeutet: Es kommt aus der Verheißung, nicht aus der Drohung.
Die Gerechtigkeit Gottes ist keine Verdammnis. Sie ist die Rettung der Opfer. Darum betet der Psalmist nicht ängstlich um Verschonung, sondern bittet geradezu flehentlich: „Richte mich, Herr“ (Ps 7,9; 26,1; 43,1). Will der Beter damit etwa bestraft werden? Fleht er masochistisch um Verdammnis? Natürlich nicht. Er hofft auf Rettung. Er vertraut darauf, dass Gottes Gericht kein Ort der Vernichtung, sondern der Gerechtigkeit ist – also ein Ort, an dem das Unrecht aufgedeckt und das Leid geheilt wird.
Die Bibel spricht immer wieder davon, dass Gott der „Richter der Waisen und Witwen“ ist (5 Mo 10,18; Ps 68,6 u.a.). Diese Formulierung meint nicht nur bestimmte Personengruppen, sondern steht exemplarisch für die Schwächsten, die Bedürftigsten. In einer patriarchal geprägten Gesellschaft ohne soziales Netz waren Witwen und Waisen vollkommen auf sich gestellt. Sie hatten keine Versorgung, keine Sicherheit, keine Stimme. Wenn Gott sich ihnen gerade als Richter zuwendet, bedeutet das: Er richtet nicht gegen sie, sondern für sie. Er schafft Recht, wo niemand sonst für sie einsteht.
Der Alttestamentler Bernd Janowski spricht darum von der „rettende[n] Gerechtigkeit“ Gottes (Janowski 1999). Und Jürgen Moltmann ergänzt:
„Darum gilt als gerecht, was heilt und gesund ist und was zurechtgebracht und rechtschaffen ist. ›Richten‹ hat hier den positiven Sinn des Aufrichtens, des Heilens und Lebendigmachens.“ (Moltmann 2010, 198)
Erst in diesem Licht wird verständlich, warum die Psalmen das Kommen Gottes als Richter nicht fürchten, sondern feiern. Psalm 96 beschreibt eine ganze Schöpfung, die jubelt, weil Gott kommt, um Recht zu schaffen. Nicht mit Feuer und Fluch, sondern mit Trost und Heil.
Die zentrale Einsicht lautet daher: Gottes Gerechtigkeit ist nicht das Gegenstück zu seiner Liebe. Sie ist ihr tiefster Ausdruck. Eine Liebe, die nicht einfach nur verzeiht, sondern heilt. Eine Kraft, die nicht verurteilt, sondern zurechtbringt. Nicht eine kalte Vergeltung, sondern eine rettende Bewegung hin zum Leben.
Doch genau diese biblische Vorstellung wurde im Laufe der Theologiegeschichte vielfach verdrängt. Jürgen Moltmann bringt das auf den Punkt:
„Aus einer opferorientierten Erwartung rettender Gerechtigkeit wurde ein täterorientiertes Moralgericht nach Maßgabe der vergeltenden Gerechtigkeit.“ (Moltmann 2008, 125)
Ein solches Moralgericht verfehlt das Evangelium. Es kann das Böse nicht besiegen – es vermehrt es. Es heilt keine Wunden – es schafft neue. Es kehrt allenfalls die Täter-Opfer-Dynamik um, aber erlöst sie nicht. Doch Gott will nicht nur die Schuldigen überführen. Er will die Verletzten aufrichten. Er will nicht vergelten, sondern verwandeln. Gottes Gerechtigkeit ist seine Liebe in Aktion. Und sein Gericht ist die gute Nachricht für alle, die leiden. Denn das letzte Wort ist nicht Verdammnis, sondern Rettung.
Wer ist der Richter?
Nachdem deutlich wurde, dass Gottes Gerechtigkeit keine Drohung, sondern eine heilvolle und rettende Wirklichkeit ist, stellt sich nun die nächste Frage: Wer ist der Richter? Diese Frage lässt sich mit großer Klarheit beantworten: Jesus Christus. So bezeugt der Apostel Paulus in 2 Korinther 5,10: „Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi.“
Doch wenn Christus der Richter ist, dann stellt sich mit Jürgen Moltmann die entscheidende Rückfrage:
„Ist Jesus der Richter, kann er dann aber nach einer anderen Gerechtigkeit urteilen als nach dem Recht der Feindesliebe und der Annahme der Armen, Kranken und Sünder, die er selbst offenbart hat?“ (Moltmann 2016, 263)
Genau hier zeigt sich der fatale Irrtum all jener Theologien, die das Jüngste Gericht als Schreckensszenario ausmalen. Immer wieder habe ich es selbst gehört – verkündet mit voller Überzeugung: „Du kannst entscheiden: Entweder nimmst du Jesus Christus an, dann ist er dein Retter. Oder du lehnst ihn ab, dann wird er dein Richter sein.“
Doch bei solchen Aussagen geschieht zweierlei: Erstens wird ignoriert, dass das „Richten“ – wie gezeigt – in der Bibel gerade keine Drohung ist, sondern eine Hoffnung auf Heil. Und zweitens wird eine theologische Zweiteilung Gottes eingeführt, die tief problematisch ist: Eine Zeit lang ist Gott barmherzig – später wird er zum gnadenlosen Rächer. Jesus war 3 Jahre lang der vergebende, heilende, menschenfreundliche Lehrer, aber am Ende mutiert er zum strafenden, verdammenden Richter? Moltmann bringt dieses Zerrbild auf den Punkt:
„Der Christus mit dem zweischneidigen Richtschwert im Mund, der mit Lohn und Strafe vergeltende Gerechtigkeit an den Menschen ausübt, ist nicht wiederzuerkennen. Er hat mit dem krankenheilenden, sündenvergebenden Bergprediger Jesus von Nazareth nichts zu tun.“ (Moltmann 2008, 123)
Es stellt sich die einfache Frage: Wie glaubwürdig wäre eine solche Offenbarung? Was hätte uns das Leben, Wirken und Leiden Jesu offenbart, wenn das Ende in völligem Widerspruch dazu steht? Wie vertrauenswürdig ist der Gekommene, wenn der Kommende sein Gegenteil ist?
Deshalb ist festzuhalten: Der Richter ist kein anderer als der Jesus von Nazareth – der Sünden vergibt, Kranke heilt und Feinde liebt. Und wenn dieser Jesus richtet, dann wird es kein Strafgericht sein, sondern ein Barmherzigkeitsgericht. Er steht nicht als Anwalt den Gläubigen zur Seite, um gemeinsam einem unbarmherzigen Gott zu trotzen. Er ist selbst der Richter, und zwar in der vollen Kraft seiner Liebe. Damit zerfällt die künstliche Trennung zwischen „Jesus als Retter“ und „Jesus als Richter“. Denn der Retter ist der Richter, und der Richter ist der Retter. Oder, wie Johann Christoph Blumhardt sagt: „Jesus kann richten, aber nicht verdammen.“
Gericht als Zurechtbringung aller Verhältnisse
Natürlich hat das Jüngste Gericht auch eine schmerzhafte Seite. Dieser „Schmerz“ ist aber kein von außen zusätzlich zugefügter, sondern der Sache selbst inhärent. Bevor Heilung geschehen kann, muss die Wunde aufgedeckt worden sein. Bevor um Vergebung gebeten werden kann, muss die Schuld erkannt worden sein. Bevor am Ende alles gut werden kann, muss alles Ungute benannt und verbannt werden. Darum bezeichnet Eberhard Jüngel das Jüngste Gericht als „das therapeutische Ereignis schlechthin“. Er erklärt:
„Denn so wie ein Arzt die Wunden nur aufdeckt, um sie zu heilen, so wird auch unsere Sünde von Gott nur aufgedeckt, um sie für immer zum Vergehen zu bringen.“ (Jüngel 1989, 58)
Wo befinden sich diese Wunden? Sie liegen im „Dazwischen“. Was meine ich damit? Ein Opfer ist niemals Opfer ohne einen Täter. Und andersherum ist ein Täter niemals Täter ohne ein Opfer. „Täter“ und „Opfer“ sind also keine festen Beschreibungen über ganze Personen, sondern beziehen sich immer nur auf bestimmte Verhältnisse und Beziehungsrelationen. Mit anderen Worten: Ein Mann, kann in der Beziehung zu seinem Sohn ein guter Vater sein, auch wenn er seine Arbeitskollegen schlecht behandelt. Eine Frau kann eine tolle Chefin sein, auch wenn sie ihre Kinder schlägt. Das Böse, die Sünde, unsere Wunden liegen im „Dazwischen“.
Darum wäre es zu kurz gegriffen, würde das Jüngste Gericht ganze Menschen pauschal erlösen oder verdammen. Denn jeder Mensch ist die Summe unzähliger solcher Verhältnisse und Beziehungsgefüge. Die Reduktion einer ganzen Person auf einziges Beziehungsgefüge würde ihrer in der Gottebenbildlichkeit begründeten Menschwürde widersprechen. Das Gericht Gottes am Ende muss, wenn es wirklich vollkommen gerecht sein soll, das können, was irdische Gerichte nicht können: zwischen Verhältnissen unterscheiden. Irdische Gerichte müssen sich entscheiden: Werfe ich den ganzen Menschen ins Gefängnis, oder spreche ich ihn frei? Das Gericht Gottes hingegen ergeht nicht undifferenziert über ganze Personen, sondern richtet die Verhältnisse und Beziehungsrelationen.
So haben die Kirchenväter sämtliche dualistischen Bibelstellen interpretiert: Unkraut und Weizen, Schafe und Böcke, Gläubiger oder Ungläubiger – das sind alles Anteile in jedem Menschen.
Die Linie zwischen den Erlösten und den Unerlösten, den Gerechten und den Ungerechten, den Opfern und den Tätern separiert keine Menschengruppen, sondern verläuft durch das Herz jedes Einzelnen.
Die Frage ist nun nicht mehr „Wer wird gerettet?“, sondern „Was von wem wird übrigbleiben?“
Alle Menschen werden durch das Gericht Gottes geheilt werden: jeder Mensch, jeden Glaubens, jeder Täter, jedes Opfer, alle. Sonst wäre keine Gerechtigkeit geschaffen und das Böse wäre verewigt. Aber was wird übrigbleiben? Welche Identitätsansprüche, welche Charakterzüge, welche Verhältnisse werden Bestand haben? Damit es zu einem wirklich guten Ende kommen kann, braucht es einen Transformationsprozess. So wie wir jetzt sind, würden wir uns selbst in Ewigkeit nicht aushalten.
Es braucht einen Einschnitt, einen göttlichen Bruch, der recht eigentlich ein neuer Anfang ist. Dies ereignet sich gerade nicht dadurch, dass einige Menschen für ewig verdammt werden, sondern darin, dass das Böse wie ein gefährliches Geschwür aus der Seele aller Menschen entfernt wird, sodass am Ende allein das Bestand hat, was Gott entspricht. Das „Jüngste Gericht“ ist die Metapher für diesen allheilenden Transformationsprozess.
Allversöhnung ohne Gericht ist nicht möglich. Denn ohne diese Transformation könnte es keine Versöhnung aller mit allen geben. Wir müssten auf ewig in unversöhnten Verhältnissen nebeneinander ausharren. Ein solcher Himmel wäre die eigentliche Hölle.
Andersherum ist aber auch Gericht ohne Allversöhnung nicht möglich. Denn ohne ein gutes Ende für alle, würden ungerechte Täter-Opfer-Dualitäten und das Böse für immer weiter bestehen bleiben. Am Ende wäre keine universale Gerechtigkeit aufgerichtet.
Die Botschaft vom Gericht Gottes am Ende erweist sich demnach als eine frohe Botschaft. Es ist das Evangelium von der allwirksamen Verwirklichung des Reiches Gottes für alle. Ich freue mich sehr auf das Gericht. So kann ich einstimmen in den Schöpfungsjubel (Ps 96) angesichts des Kommenden – ohne Angst vor Verdammnis und mit der festen Zuversicht auf das verheißene Wunder der rettenden Gerechtigkeit Gottes.
Zum Autor:
Martin Thoms (*1999) studierte Theologie in Braunschweig und Reutlingen und promoviert im Fach Systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal. Von 2023 bis 2024 war er Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neues Testament und Mitarbeiter am Lehrstuhl für Altes Testament an der Theologischen Hochschule Reutlingen. Er ist Autor der Bücher Der gottverlassene Gott (Münster 2023) und Es ist vollbracht!« Oder doch nicht? (Leipzig 2025). Zu seinen Lehrern gehörte Jürgen Moltmann, mit dem er bis zu seinem Tod im intensiven Austausch stand.
Dieser Text ist angelehnt an ein Kapitel aus dem neuen Buch von Martin Thoms »Es ist vollbracht!« Oder doch nicht? (Leipzig 2025). Wenn du mehr über Martin Thoms lesen, hören oder erfahren möchtest, kannst du auf seiner Website (www.martinthoms.de) und auf Instagram (@martinthoms.de) vorbeischauen. Zum Thema siehe auch den Studientag Allversöhnung.
Siehe auch das Gespräch mit Martin Thoms bei Geist.Zeit: Jesus der Richter? Und das soll Evangelium sein?
Literatur
Janowski, Bernd: Die rettende Gerechtigkeit. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2, Neukirchen-Vluyn 1999.
Jüngel, Eberhard: „Gericht und Gnade“. Vortrag auf dem Evangelischen Kirchentag 1989 in Berlin, abgedruckt in epd Dokumentation 29/89, 35–62.
McDowell, J. und S.: Wer ist dieser Mensch? 10.Aufl. Holzgerlingen 2010.
Moltmann, Jürgen: Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie (1995), Werke Bd. 8, Gütersloh 2016.
Ders.: Ethik der Hoffnung, Gütersloh 2010.
Ders.: „Sein Name ist Gerechtigkeit“. Neue Beiträge zur christlichen Gotteslehre, Gütersloh 2008.
Vgl. auch die anderen Beiträge im Jesus-Dossier