Diskrete Spiritualität

Kristian Fechtners Analyse mild-religiöser Frömmigkeit. Ein Beitrag von Thorsten Dietz

Welche Bilder löst das Wort «Spiritualität» in unseren Köpfen aus? Wenn wir in den einschlägigen Suchmaschinen mit diesem Stichwort nach Abbildungen fragen, ergibt sich ein klares Muster. Spiritualität zeigt sich in erhobenen Händen oder meditativer Versenkung. Spirituell fühlt man sich in berückender Naturschönheit oder inmitten fantastischer Farben. Spiritualität kann alles ausser Alltag. Spiritualität ist der grosse Exit, die Flucht in Transzendenz und Anderwelt. Ja, diese Sehnsüchte sind real. Auch real ist aber die enge Verflechtung spiritueller Haltungen mit dem Alltag vieler Menschen. Solche unscheinbaren Formen der Spiritualität werden jedoch nicht selten übersehen.

Unscheinbare Spiritualität

Seit langem gibt es in den meisten westlichen Ländern vielfältige Formen unspektakulärer Alltagsspiritualität, teils in einer typisch volkskirchlichen Form des Christentums, teils auch darüber hinaus. Noch immer sehen sich viele Menschen grundsätzlich dem christlichen Glauben verbunden und stellen ihre Zugehörigkeit zu den Kirchen nicht in Frage. Zugleich nutzen sie kirchliche Angebote wie Gottesdienste nur selten oder sporadisch. Sie reden in der Öffentlichkeit kaum über ihren Glauben. Auf Nachfrage machen sie deutlich, dass sie mit vielen traditionellen Überzeugungen der Kirchen ihre Schwierigkeiten haben.

Gelebte Spiritualität ist oft unscheinbar.

Lange Zeit ist eine solche Haltung in den Kirchen kritisch kommentiert worden, als Weihnachtschristentum von „U-Boot-Christen“ (weil sie so selten auftauchen), denen mit Glaubenskursen und ähnlichen Angeboten geholfen werden müsse. Später haben zumindest Teile von Theologie und Kirche diese Praxis ausdrücklich verteidigt. An diesem distanzierten Christentum sei nichts defizitär, vielmehr müsse man darin eine mündige und selbstbestimmte Form christlichen Glaubens in der Moderne anerkennen. Viele wollen und brauchen nicht die Betreuungsangebote eines dichten Gemeinde- und Gemeinschaftslebens.

Zuletzt geriet eine solche Würdigung eines distanzierten Christentums zunehmend unter Druck der empirischen Befunde (vor allem der EKD-Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen). Bei den Kirchenmitgliedern, so wurde anlässlich der 5. Untersuchung vor 10 Jahren festgestellt, zeige sich eine zunehmende Polarisierung zwischen Hochverbundenen und inhaltlich stark Distanzierten. Der Glaube auf Halbdistanz werde seltener und erscheine zunehmend als blosses Übergangsphänomen auf dem Weg in die völlige Säkularisierung.

Angesichts dieser Debattenentwicklung ist es mutig, dass Kristian Fechtner dieses Phänomen noch einmal näher ausleuchtet. In seinen Büchern „Diskretes Christentum“ (2015) und „Mild religiös“ (2023) wirbt er für einen differenzierten, empirisch-qualitativen Blick auf einen breiten Anteil der Bevölkerung, der zumindest unter den Mitgliedern der Volkskirchen die Mehrheit ausmachen dürfte.

Jenseits von Defizitanzeige und pauschaler Normalisierung bemüht sich Fechtner um eine positive Konturierung dieses diskreten Christentums. Es geht ihm dabei um «ein Glaubensgefühl, das lebensgeschichtlich eher verdeckt bleibt und sich nur zeigt, wenn es nicht genötigt wird, sich kirchlich zu vereindeutigen oder religiös zu exponieren.“ (Fechtner 2015, 174)

Religion und Schamgefühl

Bisherige theologische Abwertungen wie auch soziologische Deutungen haben ein bedeutsames Moment dieses Frömmigkeitsprofils zu wenig vor Augen: Sein Schamgefühl. Öffentlich gezeigte Religion wird oft belächelt oder auch lächerlich gemacht. Leicht neigt man dazu, religiöse Zurückhaltung als Anpassung oder gar als mangelnden Mut zu kritisieren. Aber Fechtner warnt davor, die Scham, fromm zu sein, in erster Linie negativ zu sehen. Seine These lautet:

Vielen Menschen ist öffentliche Religiosität in erster Linie nicht zu peinlich, sondern zu persönlich.

Scham ist nicht in erster Linie eine Schwäche, sondern auch eine Fähigkeit. In der Scham wird sich ein Mensch der eigenen Verletzlichkeit bewusst. Wer Scham bewusst fühlt, geht achtsam mit sich um. Durch die Scham „zieht das Subjekt eine Grenze um sich, durch die es sich vor der Zudringlichkeit und den Übergriffen der anderen schützt.“ (Fechtner 2015, 46.) Wo sich Menschen schambewusst zurückhalten mit jeder Selbstentblössung, achten und schützen sie den unveräusserlichen Wert ihrer eigenen Individualität.

Nach Fechtner mahnen nicht zuletzt viele biblische Geschichten zum Respekt vor menschlicher Schamhaftigkeit und warnen vor der Beschämung, als die sich jede Missachtung der Schamgrenzen anderer auswirkt. Scham gehört zum menschlichen Dasein jenseits von Eden (Gen 3,7). Wo Menschen öffentlich beschämt werden, tritt Jesus einer solchen Praxis resolut entgegen (Lk 19; Joh 8). Wo sich Menschen in ihrer Beschämung von den Blicken der anderen verfolgt und stigmatisiert fühlen, leiten biblische Texte zu einem heilsamen Umgang mit Scham an.

Insbesondere im Segen wird die Erfahrung verdichtet, wertschätzend und aufrichtend angesehen zu werden.

Die Aufgabe der Kirchen sieht Fechtner darin, „christliche Religion so wahrzunehmen und so zu gestalten, dass sie nicht bedrängt oder blossgelegt wird.“ (Fechtner 2015, 177) Gerade der diskrete Umgang vieler Menschen mit ihrer eigenen Spiritualität verdient Respekt und Unterstützung. Der kultivierte Schutz der eigenen Privatsphäre in Fragen der Religion ist alles andere als defizitär. Vor allem die Volkskirche hat mit ihren vielen Interaktionsformen auf Halbdistanz eine besondere Chance, Menschen in ihrer eigenen Spiritualität punktuell zu begleiten, ohne sie zu vereinnahmen.

Mild religiös

In seinem Buch „Mild religiös“ (2023) hat Fechtner seine Überlegungen vertieft. Dabei geht Fechtner von typischen wie anschaulichen Beschreibungen solcher diskreter Spiritualität aus, die er mild religiös nennt.

An empirischen Daten und Fakten zur religiösen Lage besteht kein Defizit, wohl aber an einfühlsamer Wahrnehmung des vermeintlich Unscheinbaren.

Weihnachten

Die vielleicht sichtbarste Form dieser Haltung ist das Weihnachtschristentum. Dazu gehört nicht nur der Gottesdienst am Heiligen Abend, der weitaus stärker besucht ist als alle anderen Gottesdienstangebote des Jahres. Es ist die Weihnachtszeit insgesamt, die von grossen Teilen der Bevölkerung bewusst gestaltet wird. Es wäre billig, vor allem den Kommerz dieser Zeit als oberflächlich zu kritisieren. Millionen Menschen verwenden viel Zeit und Sorgfalt, ihre Wohnung weihnachtlich zu gestalten, Krippen aufzustellen, Adventskränze und -kalender zu basteln. Warum all dieser Aufwand mit der Schmückung der Weihnachtsbäume, der Zelebrierung von Geschenketausch, Festessen und Hausmusik? Weihnachten ist für viele ein Hochamt der Familienreligiosität. Generationsübergreifende Gemeinsamkeit findet in diesem Fest viele Ausdrucksformen.

„Die volkskirchliche Advents- und Weihnachtsfrömmigkeit ist symbolreich, inszenierungsstark und erzählfreudig.“ (Fechtner 2023, 92)

Gerade im biographischen Querschnitt, in der Erinnerung an eigene Kindheitsweihnachten und in der Weitergabe von Traditionen an die nächste Generation, zeigt sich, wie tiefgründig das vermeintlich oberflächliche Treiben in Wahrheit ist. Die verbreitete Weihnachtsfrömmigkeit (mit und ohne Gottesdienstbesuch) zeigt sich als Praxis, die „auf ihre Weise robust ist und ein religiöses Widerlager bildet für und gegen die Lebenserfahrungen des Jahres.“ (Fechtner 2023, 98)

Engel

Aber auch andere christliche Motive sind weit verbreitet – z.B. die vielfältige Welt der Engel. Engel sind heute ein allgegenwärtiger Teil der Popkultur.

Engel gibt es im Himmel über Berlin wie im Werbeprospekt des ADAC. Jeder Mensch hat einen Engel, heisst es. Charlie hat sogar drei.

Engel erscheinen in den heiligen Schriften der Hochreligionen und auf esoterischen Messen, in den Charts und im Kino. Für Fechtner sind Engel typische Gestalten der spätmodernen Spiritualität. Sie erweisen sich als eine „Verkleinerungsform einer jenseitigen Macht im Diesseits“ (Fechtner 2023, 71). Gerade das macht sie so zugänglich. Sie verlangen kein Wissen und kein Bekenntnis.

„Man muss nicht alles glauben, was man glaubt. Und: Womöglich glaubt man dann doch ein Gran mehr, als man glauben kann.“ (Fechtner 2023, 71)

Gerade in der Gestalt der Schutzengel repräsentieren sie Fürsorge und Achtsamkeit. Das ist es, was viele Menschen nicht nur sich selbst wünschen, sondern vor allem auch ihren Lieblingsmenschen. Darum werden so viele Engel verschenkt. Der Engel als Gabe richtet aus: Ich möchte, dass du wohlbehütet bist. Diese Sehnsucht wird im Engel anschaulich und figürlich oft auch greifbar.

Chöre und Musik

Neben ihrer religiösen und diakonischen Tätigkeit sind Kirchen nicht zuletzt auch bedeutende Träger des kulturellen Lebens. Die allermeisten Chöre im deutschsprachigen Raum sind Kirchenchöre. Kirchen sind Konzerthallen und Klangräume. In christlichen Gruppen erlernen Abertausende das Spielen von Blockflöte und Gitarre, Trompete und Posaune. Fechtner zeichnet auch hier nach, dass die Kirchen weit mehr als eine äussere Hülle bieten. Für viele ist die Musik im kirchlichen Raum mehr und anderes.

Im Hören sind Menschen ganz bei der Sache und zugleich bei sich. Schon dies verbindet Musik und Religion. Musik evoziert eine Fülle von Erinnerungen und Erfahrungen.

Im Hören und erst recht Spielen religiöser Musik verlebendigt sich ein Zugang zu einer Tiefe, die sonst unsagbar bleibt.

In der Musik erfahren wir eine Einbettung und Aufgehobenheit, die sich nicht willentlich herstellen lässt. Vor allem das Singen „eröffnet einen Raum, der religiöses Erleben berührt und ermöglicht.“ (Fechtner 2023, 150)

Pilgern

Hape Kerkelings Buch Ich bin dann mal weg (2006) war nicht nur erfolgreich. Es wurde zu einem der meistverkauften Sachbücher der letzten Jahrzehnte überhaupt. Es ist ein Musterbeispiel dieser Verschränkung von Biographie und Spiritualität. Humorvolle und tiefschürfende Erfahrungen stehen im Vordergrund – und zugleich ist unverkennbar, dass es sich um eine religiöse Reise handelt, die ihre religiösen Erfüllungsmomente hatte. Genau an dieser Stelle bleibt der Autor: diskret.

Fechtner zeichnet nach, wie diese klassisch christliche Frömmigkeitsform zu einem ungeheuren Boom der letzten Jahrzehnte wurde. Nicht nur der Jakobsweg nach Santiago de Compostela erfreut sich heute hoher Beliebtheit. Inzwischen gibt es nicht nur Hildegard- und Elisabethpfade, sondern selbst einen Lutherweg, aller Kritik Luthers am Pilgern zum Trotz.

Der Körper als Zugang zum Spirituellen, das kann als ein Megatrend der neueren Spiritualität gelten.

Darum sind Yoga und Zen, Tai Chi und Qi Gong heute so allgegenwärtig. Menschen suchen „die körperliche Bewegung als leiblicher Erfahrungsraum, durch die und in der sich auch das Geistige bewegt.“ (Fechtner 2023, 119)

Mit seiner Zielorientierung bietet das Pilgern einen besonderen Mehrwert. Im Pilgern wird die Bewegung in einer Weise zielförmig, die unaufdringlich zum Nachdenken über eigene Lebensziele einlädt. Zugleich machen Menschen die Erfahrung, nicht allein unterwegs zu sein. Ein Frau beschreibt es so: „Ich bin halt Teil von einem Ganzen.“ (Fechtner 2023, 121)

„Die heutige Pilgerpraxis changiert zwischen religiöser und sportiver Praxis, sie verbindet Wandern mit geistlichen Anliegen, sie ist biographisch veranlasst und lebensgeschichtlich ausgelegt, sie bewegt sich zwischen individueller Aktivität und kollektiver Gesellung.“ (Fechtner 2023, 125)

Fechtner nennt weitere verbreitete Phänomene heutiger Spiritualität, wie Unfallkreuze als Zeichen der Trauer, das Anzünden von Kerzen, sei es in Kirchen oder zu Hause, rituelle Teilnahme an anderen Anlässen des Kirchenjahres (St. Martin / Laternenfest, Osterfeuer, Erntedank), Fasten und auch in den Kirchen immer mehr Yoga bzw. Formen der Meditation. In all diesen Formen findet sich dieses Oszillieren zwischen Religion und Selbstfürsorge, Entlastung von Bekenntniszwang und zugleich die Offenheit dafür, letzte Fragen selbstbestimmt bearbeiten zu können.

Der Wert diskreter Spiritualität

Selbstbestimmte Spiritualität

In Formen diskreter Spiritualität entziehen sich Menschen der Bestimmung durch kirchliche Lehre und religiöse Erziehung. Sie wollen nicht einfach etwas übernehmen. Sie wollen ihre eigene Praxis auch nicht verstanden sehen als Zustimmung zu einer kirchlich-institutionalisierten Form des Christentums. Im Gegenteil: es ist ihre Privatangelegenheit, mit der sie sich auf keinen Fall für irgendeine soziale Gruppe vereinnahmen lassen wollen. Ein solcher Eigensinn ist nach Fechtner zutiefst protestantisch.

Wertschätzung der Individualität

Nach Fechtner brauchen diese Menschen keine kirchlichen Angebote zur Einübung in religiöse Sprachfähigkeit. Frömmigkeit ist für sie nicht nur etwas zutiefst Persönliches, sondern auch etwas Individuelles. Sie finden für sich ihre je eigene Engelvorstellung, ihre eigenen Ziele beim Pilgern in je eigenem Tempo. Auch das Oszillieren zwischen christlicher und nichtchristlicher Selbstverortung sollte Respekt finden als Teil einer je eigenen Lebensreise.

Verankerung in der Lebenswelt

Viele Menschen greifen zu spirituellen Ausdrucksformen nicht zuletzt da, wo ihnen die Gefährdung sowohl des eigenen Lebens als auch das ihrer Lieben bewusst wird. In diesen Grenzzonen des Lebens leuchten die christlichen Haltungen und Symbole ein: In der Anteilnahme an Leid und Trauer, Freude und Festlichkeit. Angesichts grosser Lebensübergänge wie Hochzeit oder Geburt suchen Menschen eine Form der stilvolle und ausdrucksstarke Feier im Kreis ihrer Familien und Freunde. Die häufig beliebig erscheinende Bilderwelt dieser Spiritualität hat tatsächlich einen oft sehr konkreten Ort in der Lebenswelt vieler Menschen.

In ihrer Spiritualität verdichten sich Haltungen wie Fürsorge und Wertschätzung, Ehrfurcht vor dem Leben und Sehnsucht nach Geborgenheit.

Respekt vor dem göttlichen Geheimnis

Fechtner zeichnet nach, dass viele Menschen durchaus bereit sind, ihre Spiritualität in Grenzen öffentlich sichtbar zu machen. Wichtig ist ihnen aber der Schutz einer institutionell abgesicherten Gestalt der religiösen Praxis. Vor allem die immer noch weit verbreitete Kasualienfrömmigkeit zeigt dies. Der Gang zur Kirche, der Empfang der Taufe des eigenen Kindes oder des Segens anlässlich einer Hochzeit exponiert die Betroffenen öffentlich.

Gerade der klassisch kirchliche Rahmen verleiht Sicherheit. Im Schutz des Ritus lässt sich das Überschreiten von Lebensschwellen stilvoll kultivieren.

Und die religiöse Haltung ist gerade darum möglich, weil sie üblich ist, weil die soziale Anerkennung dieser Frömmigkeitsformen sie zu einem geschützten Raum macht, in dem eigene Dankbarkeit, Trauer und Bitte um Schutz Gestalt finden können.

Eine solche Spiritualität verdient jeden kirchlichen Respekt. Sie weiss oder ahnt etwas von der Unverfügbarkeit des göttlichen Geheimnisses. Denn sie stellt die eigene Frömmigkeit nicht zur Schau (Mt 6,5). Sie macht nicht viele Worte (Pred 5,1), schätzt Taten höher als Worte allein (Jak 1,22) und praktiziert den Glauben privat und unauffällig (Mt 6,6).

Wertschätzung und Frömmigkeitspflege

Wie sollten die Kirchen mit dieser Form der Spiritualität umgehen? Sie sollten sich jede Form der Herabsetzung sparen und zunächst einmal offen und differenziert wahrnehmen, was ist. Sodann empfiehlt Fechtner eine Haltung der Sympathie und Wertschätzung.

Die zurückhaltende Gestalt dieser Frömmigkeit ist „weder trivial noch belanglos“. (Fechtner 2023, 161)

Neben der Anerkennung dieser Frömmigkeitsform empfiehlt Fechtner auch etwas, was er „Frömmigkeitspflege“ nennt. Viele Menschen knüpfen an christliche Motive an und integrieren sie in ihren Alltag. Menschen sollten die Chance haben, mit der christlichen Überlieferung in Kontakt zu kommen. Faktisch sind die in diesen Kreisen beliebtesten kirchlichen Angebote Beispiele, worum es geht:

Weihnachtsgottesdienste, Feiern zu Taufe, Hochzeit und Geburt sind Gelegenheiten, in dem die Kirche einen Rahmen stiftet, ohne zu vereinnahmen.

Sie gibt Gelegenheit, an einem klar definierten Ritual teilzunehmen um in einem geschützten Rahmen etwas Persönliches zum Ausdruck zu bringen und es zugleich unaufdringlich mit anderen zu teilen.

Fechtner weiss natürlich, dass die Kirche nicht allein mit dieser Form des Christentums identifiziert werden kann. Sie handelt noch in anderer Weise öffentlich, liturgisch, kulturell, diakonisch und politisch. Und anders als in früheren Zeiten der Mitgliedschaftsstudien der EKD spricht Fechtner von dieser distanzierten Form des Christentums nicht mehr vollmundig als einer stabilen Gegebenheit. Zu deutlich ist inzwischen geworden, dass die Verabschiedung von jeglicher Anknüpfung an die christliche Religion in der Kohortenfolge der Generationen fortschreitet – und auch diese in der Gesellschaft noch häufig anzutreffende Spiritualität wohl schrumpfen lassen dürfte. Gerade darum ist ihm an wohlwollender Wahrnehmung und bewusster Pflege gelegen.

Verpasste Chance

Für wen sind diese Bücher? Sie wenden sich dezidiert nicht an die Menschen, von denen sie handeln. Theologische Reflexion ist weder mild noch alltagstauglich. Hilfreich sind sie für Menschen wie mich. Ich gehörte zu den Menschen, die diese Form der Spiritualität lange Zeit weder differenziert wahrnehmen noch wertschätzen konnten. Erst in meiner Vikariatszeit habe ich das gelernt.

An dieser Stelle möchte ich daher auch auf eine verpasste Chance hinweisen. Fechtner weiss natürlich, dass es auch andere Formen praktizierter Gläubigkeit gibt. Aber über diesen „kleinen Kreis der Hochreligiösen und traditional Eingeübten“ (Fechtner 2023, 7) erfährt man in diesem Buch kaum etwas. Das ist insofern schade, als ein nicht unerheblicher Teil der Pfarrpersonen wie der kirchlichen Angestellten zu dieser Gruppe gehören dürfte. Wäre es nicht sinnvoll, gerade diesem Teil der Kirche die Frömmigkeitsform der mild Religiösen nahe zu bringen – in einer Art und Weise, die auch die Hochreligiösen in ihren verschiedenen Gruppierungen (von einer christuszentrierten Frömmigkeit bis zum befreiungstheologischen Engagement) nachvollziehen können?

Skeptisch sieht Fechtner auf „manche dezidiert evangelistischen Projekte mit ihrem Hang zur religiösen Schamlosigkeit.“ (Fechtner 2015, 174) Wenn Fechtner in seiner Einleitung «volkskirchlich verträgliche, kulturell plausible und individuell relevante Formen von Religiosität» in Aussicht stellt und diese zugleich abgrenzt von solchen Frömmigkeitsformen, die «evangelikal-zudringlich anmuten müssen» (Fechtner 2023, 22), werden nicht wenige derjenigen, die heute noch Theologie studieren, unnötig verprellt. Sollten wir in der Kirche nicht insgesamt eine Kultur etablieren, in der sich erst einmal jedes Frömmigkeitsprofil verständnisvoll wahrgenommen fühlen kann? Fechtner weiss selbst, dass die Kirchen sich gegenwärtig im Umbruch befinden und ihre zukünftige Notwendigkeit alles andere als ausgemacht ist. Mit Recht legt er dabei seinen Akzent auf die «Ausübung von Religion in der Lebenswelt der Spätmoderne.» (Fechtner, 2023, 23) Und er weiss: «Wenn da nichts mehr wäre, erledigt sich das volkskirchliche Christentum trotz aller Anstrengungen von selbst.» (Ebd.) In einer solchen Lage wäre es zumindest in den Kirchen hilfreich, auf das gedeihliche Miteinander unterschiedlicher Formen der Spiritualität hinzuwirken.

Literatur

Fechtner, Kristian: Mild religiös. Erkundungen spätmoderner Frömmigkeit. Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2023.

Fechtner, Kristian: Diskretes Christentum. Religion und Charme. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2015.

Bildnachweis: Pixabay Ralphs_Fotos, https://pixabay.com/photos/angel-art-sculpture-figure-3740393/