Theologie in der Schweiz

Wie theologische Impulse aus der Schweiz schon seit Jahrhunderten zur Inspirationsquelle und zum Brennspiegel der Theologiegeschichte werden.

Wohl kein Land der Welt hat auf so dichtem Raum so vielfältige Impulse für die weltweite Theologie gesetzt und verarbeitet wie die Schweiz.

Kernland der Reformation

Im 16. Jahrhundert steht Ulrich Zwingli für einen unabhängigen Beginn der reformatorischen Aufbrüche in Zürich. In Genf prägte Johannes Calvin eine Form reformierter Theologie, die weltweit den grössten Einfluss aller reformatorischen Aufbrüche dieser Zeit entfaltete. Beide greifen dabei zurück auf viele Vorarbeiten des Humanismus, wie sie vor allem von Erasmus von Rotterdam repräsentiert werden, der viele Jahre lang in Basel lebte. Theologen wie Heinrich Bullinger und Theodor Beza sorgten in der zweiten Generation für eine nachhaltige Verarbeitung der ursprünglichen Aufbrüche. Sie begründeten eine kirchliche und auch gesellschaftliche Kultur, die seit über 500 Jahren für die Schweiz prägend und in der ganzen Welt anregend wurde. Weltweit wurden Ideen der Schweizer Reformation wirkmächtiger als die von Luther.

Land der Aufklärung

Die Aufklärung war ein gesamteuropäisches Projekt. Die Schweiz blieb in dieser Zeit und auch in den folgenden Jahrhunderten ein Land innovativer Ideen mit langfristiger Wirkung. In diesem Zeitalter wurde der in Genf geborene Jean-Jaques Rousseau einer der maßgeblichen Begründer einer neuen Geisteshaltung. Wie kein anderer verkörperter er in dieser Epoche die Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit und Selbstbestimmung. Zugleich lehnte er auch jeden Gegensatz von Aufklärung und Religion ab. Johann Caspar Lavater wurde in Zürich zu einem Repräsentanten einer neu erweckten Frömmigkeit. Als Pfarrer beeindruckte er auch viele aufgeklärte Denker und Künstler mit seiner Betonung eines individuellen Glaubens ohne dogmatische Verkrustung. Der in Zürich geborene Johann Heinrich Pestalozzi veränderte unser Bild von der menschlichen Jugend. Mit den Konsequenzen seiner gläubigen Menschenfreundlichkeit inspiriert er die Pädagogik bis heute. Der Schweizer Liberalismus des 19. Jahrhunderts begründete eine bis heute wirksame, demokratische Kultur der Mündigkeit und Mitbestimmung. Diese Einflüsse veränderten und prägten auch die Schweizer Kirche und Theologie nachhaltig. Liberale Theologen wie Alois Emanuel Biedermann sorgten nach Jahrhunderten der dogmatischen Bekenntnisbindung in vielen Kirchen dafür, dass die Freiheit des Glaubens auch in der christlichen Gemeinde Anerkennung fand.

Land der neuen Aufbrüche

Im 20. Jahrhundert wird die Schweizer Theologie einmal mehr weltweit einflussreich. Der Erste Weltkrieg stürzte Mitteleuropa in eine nachhaltige Krise des eigenen Fortschrittsoptimismus. Karl Barths Buch „Der Römerbrief“ (1919/22) markierte einen Epocheneinschnitt. Barth reagierte mit seiner Theologie auf die Krise der modernen Kultur und zeigte, dass die Berufung auf Gott in der Moderne zu einer Grundhaltung der Selbstkritik führen muss. In Auseinandersetzung mit den Fragen der Zeit und in der Rückbesinnung auf die biblische Botschaft entwickelte Barth einen theologischen Ansatz, der die bekanntesten Theologen der nächsten Jahrzehnte (von Rudolf Bultmann über Dietrich Bonhoeffer) stark beeinflusste. In der Schweiz entwickelte sich ein breites Spektrum der Wort-Gottes-Theologie. Neben Karl Barth und seiner theologischen Mitarbeiterin Charlotte von Kirschbaum gaben Freunde und Kollegen wie Eduard Thurneysen, Emil Brunner und andere der Schweizer Theologie ein Profil. Diese Impulse der Wort-Gottes-Theologie prägen die Theologie in der Schweiz und weit darüber hinaus bis heute.

Zugleich ist die Schweiz ein Brennspiegel für das ganze Spektrum theologischen Nachdenkens. In der Schweiz wurden unterschiedliche Formen Konservativer Theologie entwickelt mit pietistischer, evangelikaler und fundamentalistischer Prägung. In der Schweiz fand auch die liberale Theologie des 19. Jahrhunderts mit ihrer kulturellen Offenheit und ihrem Ringen um einen zeitgemässen Ausdruck des Glaubens immer neue Vertreter. Heute lässt sich Leonard Ragaz mit seinen religiös-sozialen Impulsen als Vorläufer befreiungstheologischer Aufbrüche verstehen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weltweit dem Christentum ein ganz neues prophetisches Profil gaben. Schweizer Theolog:innen prägten nicht nur weltweite Theologie, sie griffen auch Anregungen aus der Weltkirche auf und machten sie für eigene Herausforderungen fruchtbar. Das zeigt sich exemplarisch in der Feministischen Theologie. Theologinnen wie Marga Bührig oder Else Kähler brachten die weltweit bedeutendsten feministischen Theologinnen des 20. Jahrhunderts in die Schweiz. Die Feministische Theologie hat sich Jahrzehnte lang mit vielen theologischen Fragen auseinandergesetzt, die heute für Kirche und Theologie insgesamt wesentlich sind: Wie entwickeln wir eine christliche Theologie ohne antijüdische Klischees? Wie übernehmen wir Verantwortung für die koloniale Politik Europas und lernen im Gespräch mit Theologien nicht-weisser Christ:innen eine rassismuskritische Grundhaltung? Wie treten wir für Frauenrechte ein, ohne dadurch eine Geschlechterpolarität zu verstärken, die queere Menschen ausgrenzt?

Die Schweiz ist schließlich auch ein bedeutender Ort Katholischer Theologie. Mit den Theologen wie Hans Küng und Hans Urs von Balthasar hat die Schweiz zwei der bedeutendsten theologischen Denker des 20. Jahrhunderts hervorgebracht. Beide stehen für den Neuaufbruch der Katholischen Theologie im 20. Jahrhundert und verkörpern dabei den progressiven und den konservativen Flügel heutiger Auseinandersetzungen. 

Mit unserer Podcast-Reise durch die Schweizer Theologie im 20. Jahrhundert möchten wir dieses Spektrum theologischer Positionen sichtbar machen, so dass sich jede und jeder dadurch anregen und herausfordern lassen kann.