«Frommes Zürich» von Armin Sierszyn

Über Grösse und Grenzen des Pietismus in der Zürcher Kirche. Eine Rezension von Thorsten Dietz

Armin Sierszyn füllt mit diesem Buch eine echte Lücke: Zum historischen Pietismus der frühen Neuzeit in der Schweiz gibt es viele Studien. Sierszyn beschreibt die Entwicklung pietistisch-frommer Kreise vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Er macht die Verbindungslinien und auch Wandlungen deutlich zu dem, was wir heute als evangelikale Bewegung in der Schweiz bezeichnen würden. Für das Verständnis der heutigen kirchlichen Landschaft in Zürich und darüber hinaus leistet dieses Buch etwas bislang Einzigartiges.

1. Pietistische Anfänge und kirchliche Repression (17. und 18. Jahrhundert)

Unter Pietismus versteht man eine protestantisch-kirchliche Reformbewegung, die im 17. Jahrhundert beginnt und die meisten evangelischen Kirchen Europas beeinflusst. Pietismus steht für eine Erneuerung der persönlichen Frömmigkeit, für eine Abkehr von der autoritären Ordnung einer orthodoxen Staatskirche, für eine zukunftsorientierte Hoffnung auf bessere Zeiten, verbunden mit entsprechenden Reformimpulsen, den persönlichen Glauben zu vertiefen und das Leben zu verbessern.

Der Pietismus in der Schweiz verdankt sich unterschiedlichen internationalen Einflüssen. Massgebliche Impulse gingen sicher von Deutschland aus, vor allem vom Wirken von Philipp Jakob Spener (1635-1705) und August Hermann Francke (1663-1727). Aber die frommen Erneuerungsbewegungen in Zürich profitierten auch von niederländischen und englischen Einflüssen. Schon Ende des 17. Jahrhunderts kommen erste fromme Kreise zu Erbauungsveranstaltungen zusammen. Pfarrer Johann Jakob Ulrich (1683-1731) spricht sich für die neue Frömmigkeit aus. Studenten aus Deutschland bilden 1714 einen «brüderlichen Kreis zum gemeinsamen Studium der Bibel» (29).

Einflussreiche Bürger wie der Obmann Heinrich Bodmer (1669-1743) bekennen sich zur pietistischen Erneuerung. Der Pietismus beginnt im Zürcher Bürgertum und erreicht von dort aus ein breites soziales Spektrum. Die neue persönliche Frömmigkeit überbrückt die starren Grenzen der sozialen Schichten.

«Reich und Arm betrachten sich als Brüder und Schwestern. Auch Frauen besuchen die Konventikel und sind geistlich gleichberechtigt.» (41)

Anders als in Teilen von Deutschland (Württemberg, Preussen) findet der Pietismus keine Toleranz oder gar Entfaltungsraum in der Zürcher Kirche. Ihn trifft erheblicher Widerstand der Staatskirche und der konservativen Wahrer des Status quo. (39) Die Vorwürfe lauten auf Förderung einer emotionalen Frömmigkeit, Zweifel an Lehrsätzen wie der ewigen Verdammnis, Verbreitung von mystischen Schriften sowie Zerrüttung der öffentlichen und sozialen Ordnung.

An vielen Beispielen zeichnet Sierszyn nach, wie pietistische Fromme Ausgrenzung und Vertreibung erfuhren und zunehmend marginalisiert wurden. Gleichwohl sind die kulturelle Bedeutung und langfristige Wirkung dieses Pietismus enorm. Es war diese religiöse, innerkirchliche Bewegung, die Dogmatismus und Intoleranz der staatskirchlichen Welt hinterfragte. Hier bahnten sich Auflockerungen der ständisch geordneten Gesellschaft an, hier wurden Freiräume gesucht und gefunden für erfahrungsbasierte und authentische Frömmigkeit.

2. Prägender Einfluss pietistischer Frömmigkeit (Frühes 19. Jahrhundert)

Ende des 18. Jahrhunderts verändert sich das gesellschaftliche Klima durch den zunehmenden Einfluss der europäischen Aufklärung. Die «Schweiz» (noch in anderen Grenzen und von heute verschiedener Staatsform) zählt dabei zu den produktivsten Gebieten Europas. Das gilt nicht nur für den in Genf geborenen Jean-Jaques Rousseau (1712-1778), der mit seiner weltweiten Ausstrahlung zu den wirkmächtigsten Gestalten dieses Jahrhunderts überhaupt gezählt werden muss. Bedeutsam ist auch die Zürcher Aufklärung, die der Stadt damals den Ruf eines Athens an der Limmat eintrug. Vor allem Johann Jakob Bodmer (1698-1783) und sein weiter Freundeskreis finden in der ganzen Schweiz und im deutschsprachigen Ausland viel Beachtung. Gemeinsam mit dem Philologen Johann Jakob Breitinger (1701-1776) setzt sich Bodmer im Streit mit dem berühmten Leipziger Johann Christoph Gottsched (1700-1766) erfolgreich für eine Aufwertung von Phantasie und Kreativität ein. Sein Einfluss prägt im Zürcher Raum so unterschiedliche Menschen wie den Theologen Johann Caspar Lavater (1741-1801), den Maler Johann Heinrich Füssli (1741-1825) oder den für die Pädagogik höchst wirkmächtigen Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827). Die Aufklärung bringt nun auch wesentliche Anliegen des Pietismus zum Durchbruch, wie die stärkere Berücksichtigung menschlicher Individualität, die Aufwertung des Gefühlslebens sowie eine Abkehr von Dogmatismus und Intoleranz.

Im Zeitalter der Aufklärung finden auch pietistische Bewegungen Toleranz. Sierszyn zeichnet nach, wie Ende des 18. Jahrhunderts eine neue pietistische Generation in Zürich wieder Einfluss gewinnt. Eine Schlüsselgestalt ist dabei der Universalgelehrte und Pfarrer von St. Peter, Johann Caspar Lavater (1741-1801). In seinem Studium wird Lavater vom neuen Geist der Aufklärung nachhaltig geprägt. Zugleich wird er zunehmend zum Kritiker einer rein aufklärerischen Theologie und Frömmigkeit. Er kritisiert die neue Verstandeseinseitigkeit der historisch-kritischen Bibelerforschung und spricht sich gegen jede Relativierung der Heilsbedeutung Jesu Christi aus. Seine biblisch orientierten wie leidenschaftlichen Predigten in St. Peter finden enormen Zulauf. Über seinen Gemeindedienst hinaus steht Lavater im engen Kontakt mit vielen Gelehrten und Künstlern seiner Zeit, von Johann Gottfried Herder bis zu Johann Wolfgang Goethe, den er vergeblich zu einem christozentrischen Glauben zu bekehren versucht. Mit seiner Kritik an den Einseitigkeiten einer rationalen Aufklärung ist er mehr als ein «frommer Aussenseiter» (Emanuel Hirsch) seiner Zeit. Er entfaltet nachhaltigen Einfluss für kommende Generationen, vergleichbar mit Johann Georg Hamann, Matthias Claudius und Heinrich Jung-Stilling in deutschen (bzw. europäischen) Landen.

Neben Lavater würdigt Sierszyn ausführlich Leben und Einfluss von Johann Jakob Hess (1741-1828) und Georg Gessner (1765-1843). Ende des 18. Jahrhunderts wirken die beiden neben Lavater an den drei Hauptkirchen Zürichs, St. Peter, Grossmünster und Frauenmünster. Hess findet mit bald 30 Jahren zu einer persönlichen Bekehrungsfrömmigkeit, zum Glauben an Jesus Christus und zu einer Hochschätzung der Bibel (68). In weit ausgreifenden Büchern über das Leben Jesu und die Bedeutung des Reiches Gottes entwirft er eine für viele überzeugende Form eines biblisch gegründeten und durchdachten Glaubens. Als Pfarrer am Grossmünster und Antistes (Vorsteher) der Zürcher Kirche prägt er die Stadt und ihr Umfeld für viele Jahrzehnte. Im frühen 19. Jahrhundert ist er sowohl bei der Gründung der Zürcher Bibelgesellschaft (1812) als auch der Zürcher Missionsgesellschaft (1819) federführend.

Georg Gessner ist noch mal eine Generation jünger und führt die Impulse von Lavater und Hess auch in den kommenden Jahrzehnten weiter. Als Schwiegersohn Lavaters schreibt er nach dessen Tod eine ausführliche Biographie über diesen. In Gemeinschaft mit Hess und anderen erweckten Pfarrern prägt er als Pfarrer von Fraumünster und später Grossmünster Zürich bis in die 1830er Jahre. International verbunden mit vielen Erweckten, vom Siegerländer Erbauungsschriftsteller Heinrich Jung-Stilling über die international vernetzte Anna Schlatter-Bernet bis zum katholischen Bischof Michael Sailer, beteiligt er sich beim Aufbau freier Werke der später sogenannten Inneren Mission. Bibel- und Missionsgesellschaften sowie soziale Hilfs- und Rettungshäuser im christlichen Geist werden gegründet. Alle drei prägen die Zürcher Kirche nachhaltig, nicht zuletzt begünstigt vom Wandel der Zeit, die nach den gewalttägigen Exzessen der französischen Revolution und den gescheiterten Kriegen Napoleons europaweit ein kritisches Verhältnis zur Aufklärung nach sich zog.

Was ist das Besondere an diesen Männern? Ihnen gelingt mehr als eine nur vernünftige Anpassung des christlichen Glaubens an den Geist der Aufklärung. Die Frömmigkeit geht bei ihnen nicht in der Empfehlung der Tugendhaftigkeit auf, wie es in der Hochzeit der Aufklärung manchmal scheinen konnte.

Was sie vermitteln, ist existenzieller Trost, lebenspraktische Motivation und Verdichtung von religiöser Gemeinschaft.

Sie nehmen die religiösen Bedürfnisse der Menschen ernst, bieten in ihren Predigten und Erbauungstexten Geborgenheit auch angesichts schwieriger Lebenskrisen. Sie verbinden Gläubige in gemeinsamer Frömmigkeit und motivieren sie zum Handeln in Kirche und Gesellschaft.

3. Frommer Aktivismus im Gegenwind (Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum 1. Weltkrieg)

Stand das Europa des frühen 19. Jahrhunderts insgesamt im Zeichen umfassender Restauration, so setzt sich in der Schweiz spätestens nach der französischen 1830er Julirevolution wieder eine aufgeklärt-liberale Grundhaltung durch, mehr als in den meisten anderen europäischen Ländern. Der Weg zur Bundesverfassung 1848 und zu ihrer weiteren Ausgestaltung vollzieht sich unter einer Dominanz liberaler Überzeugungen, im grossen Unterschied etwa zu Deutschland und seiner gescheiterten 1848er Revolution. Vor allem in den Städten gerät der Pietismus in eine Minderheitensituation.

Die Liberalisierung von Kirche und Gesellschaft führt in den frommen Landgebieten um Zürich zu massiven Verunsicherungen.

Berühmtestes Beispiel ist der «Züriputsch» (1839). Als der sehr liberale deutsche Theologe David Friedrich Strauss (1808-1874) nach Zürich an die 1833 neu errichtete Zürcher Universität berufen wird, sorgt das für empörte Schockwellen unter den Erweckten auf dem Lande. So kommen sie zu Tausenden bewaffnet in die Stadt und lassen sich auch nicht durch eine sofortige Pensionierung von Strauss beruhigen. Sie nötigen den Grossen Rat der Stadt zum Rücktritt. Binnen kurzem wird unter dem Druck der Menge ein konservativer, gottesfürchtiger Rat gewählt, wie es der Wahlaufruf ausdrücklich forderte. Unter Umgehung der rechtlichen Ordnung versuchen die frommen Putschisten, in Zürich Stadt und Land die Hegemonie konservativ-christlicher Ordnung auf allen Ebenen wieder herzustellen.

Diese Phase dauert jedoch nur wenige Jahre. Schon bei der nächsten ordnungsgemässen Wahl (1845) setzt sich wieder eine liberale Mehrheit durch. In den kommenden Jahrzehnten dominiert der Liberalismus Staat und Kirche, bis dahin, dass die Reformierten Kirchen der Schweiz in den1860er Jahren die Geltung verpflichtender Glaubensbekenntnisse aufheben. «Das Ziel der Bibeltreuen, die ganze Kirche auf der Grundlage des Apostolischen Bekenntnisses zu erhalten, bleibt unerreicht.» (182) Der Pietismus verliert vor allem in den Städten seinen bestimmenden Einfluss, in Zürich, aber auch in Winterthur oder Uster. Gleichzeitig kommt es auf dem Land zu erwecklichen Aufbrüchen, im Zürcher Oberland wie auch auf der anderen Seite des Zürichsees in Wädenswil, Horgen oder Hirzel. «Nicht nur im Oberland mit seinem jahrhundertealten distanzierten Verhältnis zur Stadt, sondern auf der ganzen Landschaft begünstigt innerer Abstand zur Stadt Zürich «freikirchlich gestimmte» Pietismen, die der staatsnahen Landeskirche gegenüber mehr oder weniger skeptisch eingestellt sind.» (147)

Als kirchliche Minderheit entfalten die Pietisten ein hohes Mass an kreativer Aktivität.

Sie sind vor allem in Verbindung mit den angelsächsischen Evangelikalen Teil der weltweiten Missionsbewegung. Sie treten wie in Deutschland als Gründer von sozialen und diakonischen Werken in Erscheinung. Wo Kirche und Gesellschaft die soziale Frage vielfach verschlafen, sind es nicht selten die erweckten Frommen, die die Alltagsnöte der Menschen ernstnehmen. Auch hier ist es wieder auffällig, dass Frauen mehr Wirkräume erlangen, als es in der damaligen Gesellschaft üblich ist. Meta Heusser-Schweizer (1797-1876), die Mutter der Schriftstellerin Johanna Spyri («Heidi»), prägt mit ihren Betrachtungen und Dichtungen das Glaubensleben vieler Menschen ihrer Zeit. Dorothea Trudel (1813-1862) in Männedorf gründet und leitet mehrere Häuser, in denen sie durch geistliche Verkündigung, Seelsorge und auch Gebet mit Handauflegung vielen Menschen Heilungserfahrungen vermittelt; so z.B. Elias Schrenk (1831-1913), der im 19. Jahrhundert zum einflussreichsten Evangelisten in Deutschland werden sollte.

Sierszyn verschweigt nicht, dass es dabei auch zu religiösen Übertreibungen und einzelnen Exzessen kommt, bis hin zur rituellen Tötung auf vermeintlichen Befehl Gottes. Insgesamt bleiben das Ausnahmen, auch wenn solche Ereignisse von den Gegnern der Erweckung skandalisiert werden. (151) Aber die Ausstrahlungskraft des Pietismus geht zunehmend zurück. «Das Bildungsbürgertum wird durch die Erweckung im Züribiet kaum erreicht.» (151)

Sierszyn konzentriert sich sodann stark auf die Geschichte der Werke, deren besondere Berücksichtigung er im Untertitel seines Buches nennt: Die Evangelische Gesellschaft und die Evangelisch-kirchliche Vereinigung.

Die Evangelische Gesellschaft hat ihre Anfänge in den 1830er Jahren, schon im Umfeld von Hess und Gessner und ihren geistlichen Versammlungen. Nach dem Intermezzo einer konservativen Regierung in Folge des Züriputsches (1839-1845) kommt es nach dem endgültigen Sieg der Liberalen zu einer Neugründung der Evangelischen Gesellschaft im Jahr 1847. Von Anfang an formiert sie sich als christlich-konservativer Gegenpol zur liberalen Vormacht in Staat und Kirche. Missionarische Bezeugung des Glaubens und praktischer Dienst werden eng miteinander verbunden. In der Folgezeit trägt die Gesellschaft eine Vielzahl von Gründungen geistlicher und diakonischer Werke. 1858 gründen die Erweckten die Kranken- und Diakonissenanstalt Neumünster. Im Laufe der Zeit verpflichten sich immer mehr Frauen als Diakonissen zu einem ehelosen und dem Dienst an den Armen geweihten Leben. Teilweise arbeiten über 500 Diakonissen in Pflegedienst und Seelsorge sowie in verschiedenen sozialen Einrichtungen. Wie bei Wichern in Hamburg, Bodelschwingh in Bethel und Löhe in Neuendettelsau kommt es zu einer engen Durchdringung von biblischer Verkündigung und sozialer Diakonie. Sonntagsschulen und Jünglingsbünde werden aufgebaut.

Der Schweizerische Evangelisch-kirchliche Verein (SEKV) entsteht zuerst auf gesamtschweizerischer Ebene im Jahr 1871. Nach den schweizweiten Ausserkraftsetzungen der kirchlichen Bekenntnisse in den Reformierten Kirchen sammeln sich Fromme aus allen Landesteilen, um gemeinsam für eine biblisch gegründete Frömmigkeit in den Landeskirchen einzustehen. Von Anfang an ist auch die Regionalisierung dieser Arbeit in kantonsspezifischen Gruppen geplant, so dass 1872 eine Zürcher Sektion gebildet wird. In der Folgezeit kommt es bald zu einer wechselseitigen Durchdringung von Evangelischer Gesellschaft und Zürcher SEKV. Seit 1896 vertritt der Synodalverein die Interessen der Positiven (so nannte man damals die Erweckten im Unterschied zu den Liberalen) in der Landessynode.

Ihren Vorbehalten gegenüber der liberalen Gesellschaft zum Trotz nutzen diese pietistischen Gruppen die Chancen einer modernen Gesellschaft. Sie machen Glaube als missionarisches Engagement und Dienst an den Benachteiligten sichtbar.

Vielerorts sind sie «tragendes Element des kirchlichen Lebens – und Unruheherd zugleich», wie der Zürcher Kirchenhistoriker Peter Opitz in seinem Endorsement für Sierszyns Buch auf dem Klappendeckel schön zusammenfasst.

4. Trügerische Stabilität in (Nach-)Kriegsjahren (1920-1960)

Im 20. Jahrhundert ändert sich das gesellschaftliche und kirchliche Klima. Zwei Weltkriege sorgen dafür, dass es in fast allen westlichen Staaten und so auch in der Schweiz zu einer konservativen Grundstimmung kommt. Das betrifft auch die Theologie. Die Wort-Gottes-Theologie von Karl Barth und Emil Brunner greift Anliegen auf, die klassisch pietistisch waren. Die Berufung auf die Bibel und auf die Reformation wird nun theologischer Mainstream. Der einst so dominante theologische Liberalismus wird zur Minderheitenposition. Die kirchlichen Bekenntnisse werden wieder neu in ihrem Wert erkannt, auch an den theologischen Fakultäten. Es «bilden ja die «bekennenden» Theologen die grosse Mehrheit unter den Pfarrern, und das Kirchenvolk ist darob froh.» (258) – heisst es 1939 in einem Jahresbericht der Evangelisch-kirchlichen Vereinigung. Sierszyn weist auch auf die wachsenden Probleme in dieser vermeintlich guten Zeit hin.

Die Pietisten profitierten von einer Zeitstimmung, die sie selbst kaum prägten.

Die Dialektische Theologie hingegen habe stets an einer «Front gegen alles Mystische und Pietistische» festgehalten. (280). Zu einer erwecklichen Bekehrungsfrömmigkeit hätten Barth und Brunner Abstand gehalten. Auch habe sich ihre theologische Prägung nur bedingt als gemeindebildend erwiesen. Viele Pietisten hätten es versäumt, eigenständige theologische Arbeit zu treiben und leicht auch übersehen, dass die Generation der Bekennenden Theologie stets an der Bedeutung historisch-kritischer Bibelauslegung festgehalten habe.

5. Kulturwandel und Säkularisierung (1960 bis heute)

Radikalen Wandel bringen die 1960er Jahre. Nach Jahrzehnten des Konservatismus brechen sich nun wieder die liberalen Impulse der Moderne Bahn. In allen westlichen Staaten kommt es zur Kritik an autoritären Traditionen, an repressiver Sexualmoral und patriarchalischer Familienordnung.

Gleichbehandlung aller Menschen, Freiraum für persönliche Individualität und Authentizität werden Schlüsselwerte einer neuen Zeit. Der Pietismus gerät erheblich unter Druck.

Pietistische Kreise konnten sich in den Jahrzehnten zuvor auf missionarische Arbeit konzentrieren, weil sie letztlich im Einklang mit gesamtgesellschaftlich geteilten Werten standen. Ab den 1960er Jahren verändern sich die allgemeinen moralischen Werte rapide. Nun sehen sich viele Pietisten in umfassender Hinsicht als gesellschaftliche Minderheit. Sierszyn zeichnet nach, wie die Kirchen dem gesellschaftlichen Wandel nicht nur keinen Widerstand entgegensetzen, sondern ihn weitgehend mittragen. Und mehr noch: diese liberalen Impulse dringen zunehmend auch in die pietistisch geprägten Werke und Gemeinschaften ein. Sierszyn veranschaulicht dies anhand der im Buch besonders berücksichtigten Werke, der Evangelischen Gesellschaft und der Evangelisch-kirchlichen Vereinigung.

Den Zeitraum von 1945-1990 bezeichnet Sierszyn als Sterbephase der Evangelischen Gesellschaft. Schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts muss die Gesellschaft viele diakonische Werke abstossen, da sie diese unter den gestiegenen Anforderungen an geschultes Personal nicht mehr auf der Basis von ehrenamtlichem Engagement und Spendenfinanzierung betreiben kann. Ebenso scheitern nach dem Krieg alle Versuche, der als zunehmend exklusiv liberal wahrgenommenen Kirchenpresse etwas Überzeugendes und finanziell Tragfähiges entgegenzusetzen. Ab den 1960er und 70er Jahren sei die Evangelische Gesellschaft selbst zunehmend vom Geist moderner, ja progressiv-liberaler Theologie durchdrungen worden. 1990 gibt die Evangelische Gesellschaft bekannt, künftig nicht mehr mit den klassisch verbundenen Werken der EKVS zusammenarbeiten zu wollen. 1993 wird das verbliebene Vermögen der Evangelischen Gesellschaft in eine Stiftung überführt. Mit den verbliebenen Gütern wird eine Reihe von sozialen und bildungsorientierten Angeboten bis zur Gegenwart gefördert und getragen. Sierszyn unterstellt dieser Stiftung, dass sie heute «ohne grossen Basisbezug von Kreisen verwaltet» werde, «die zum Glauben der Väter und Mütter dieser Gesellschaft keinen inneren Bezug mehr haben.» (314)

Bei der Evangelisch-kirchlichen Vereinigung zeigen sich vermehrt innere Spannungen und Unklarheiten über ihren Kurs. Auch in ihren Beiträgen und öffentlichen Äusserungen häufen sich die Einflüsse einer Theologie, die Sierszyn als liberal und historisch-kritisch ansieht. Mehr und mehr ziehen sich die ohnehin schrumpfenden Unterstützungskreise von der Organisation zurück. Es gibt zunehmend weniger Ressourcen, finanziell wie personell. 2018 kommt es nach 150 Jahren zur Auflösung zur der EKVS.

Einen anderen Weg geht die Zürcher Regionalgruppe, die Evangelisch-kirchliche Vereinigung in Zürich (EKVZ), die seit 1974 alle anderen evangelisch-kirchlichen bzw. positiven Gruppierungen von Stadt und Kanton vereinigt. Unter der Leitung von Pfr. Hans-Peter Christen und Hanspeter Nüesch (Campus für Christus) erlebt diese eine evangelikale Neuausrichtung. 1990 entscheidend man sich bewusst dafür, künftig in engem Austausch mit der Schweizer Evangelischen Allianz zu arbeiten und sich ihre Glaubensbasis zu eigen zu machen. In der in Deutschland gegründeten und nun auch mit einem Schweizer Regionalteil versehenen Zeitschrift Idea Spektrum findet man ein Publikationsorgan, in dem man die eigenen Anliegen vertreten sieht. Schliesslich kommt es im Zuge der evangelikalen Neuaufstellung auch zur Gründung einer eigenen Fraktion in der Zürcher Synode. Die klassisch konservative Gruppe, der Synodalverein, in dem sich im 19. Jahrhundert die Positiven im Gegensatz zu den Liberalen vereinigt haben, gilt als weiteres Beispiel für den schleichenden Verlust eines pietistisch-konservativen Profils. Die Evangelisch-kirchliche Fraktion möchte typisch pietistische Anliegen wie die Orientierung an Bibel und Reformation sowie den Einsatz für die Verbindung von Mission und Diakonie ins Zentrum stellen.

6. Gründe für den Niedergang des Pietismus im 20. Jahrhundert

Eine Schlüsselfrage in Sierszyns Buch lautet:

Warum waren die Zürcher Frommen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolglos?

Das ganze Buch ist von der Überzeugung bestimmt, dass die Liberalisierung der Schweizer Reformierten der zentrale Grund dafür ist, dass die Kirchen zunehmend Mitglieder verlieren. Müsste man dann nicht erwarten, dass diejenigen, die sich dieser Liberalisierung verweigern und am Evangelium festhalten wollen, erfolgreicher bzw. zumindest stabiler sind als die anderen? Doch auch die «Evangelische Gesellschaft und die Evangelisch-kirchlichen Vereinigung» erleben «einen empfindlichen Niedergang». (283) Sie verlieren nicht nur jeden Einfluss auf die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung, sie werden selbst in der Kirche zu einer Minderheit mit geringem Einfluss. Wie konnte es zu dieser Entwicklung kommen? Sierszyn nennt mehrere Faktoren für den Niedergang des Pietismus.

a) Benachteiligung durch die liberale Kirche

Auf allen Ebenen der kirchlichen Verantwortung haben Pietisten das Gefühl, vom dominanten Liberalismus verdrängt zu werden. An den theologischen Fakultäten gibt es kaum pietistische Dozenten. Schon als die Frommen im 19. Jahrhundert für verstärkte Missionstätigkeit werben, finden sie kein Gehör. «Eine staatsnahe kirchlich-liberale Mehrheit schlägt jede Erneuerung nieder, die den Status quo gefährden könnte.» (172) Dieser Eindruck zieht sich durch die Jahrhunderte. In den letzten Jahrzehnten sieht Sierszyn eine zunehmende Selbstsäkularisierung der Kirche insgesamt am Zuge, die die Entfaltungsräume für missionarische Arbeit immer weiter einengt. «Der Sozialarbeiter verdrängt den christlichen Seelsorger» (286). Der Pietismus hat zwar in seiner Frühzeit ganz andere und brutalere Formen der Unterdrückung erfahren. Im 19. Jahrhundert haben sich pietistische Strömungen auch gegen den Strom vielfach behaupten können. Aber im 20. Jahrhundert gelingt das immer weniger.

b) Abwanderung engagierter Kreise in die Freikirchen

Anhand mehrerer Beispiele beschreibt Sierszyn, wie nicht nur Einzelne, sondern auch ganze kirchlich-pietistische Gruppen und Gemeinden sich von der Kirche trennen und einer Freikirche anschliessen, wie z.B. die Freie Kirche Uster oder die jetzige FeG Fuhr in Wädenswil. Freikirchen haben in der Schweiz einen deutlich höheren Anteil an der Bevölkerung als in Deutschland. Ein Teil ihres Erfolges liegt offenbar darin, dass sie in ziemlichem Masse landeskirchliche Gläubige anziehen konnten, die für sich in den kirchlichen Strukturen zu wenig Freiraum zur Entfaltung ihrer Frömmigkeitsanliegen sahen. Sicherlich dürfte in diesem Prozess für den kirchlichen Pietismus ein wesentlicher Grund eigener Schwächung liegen.

c) Innere Uneinigkeit

Faktisch finden pietistische Kreise keine gemeinsamen Antworten auf die Herausforderungen der Zeit. Einige – und ihnen dürfte Sierszyns Sympathie gehören – setzen auf radikalen Widerstand gegen den Geist der Zeit, zuletzt vor allem den Geist der 68er Bewegung. Nicht wenige Pietisten waren jedoch offenbar nicht bereit, einen solchen Weg der permanenten Abgrenzung zu gehen. Viele haben sich angenähert an andere theologische Strömungen, zumal der Wort-Gottes-Theologie, haben sich mit der kirchlichen Vielfalt arrangiert und auf unterschiedlichen Ebenen theologische Einsichten übernommen, die ihnen überzeugender erschienen. Aus Sierszyns Sicht haben sie sich auf einen «partiellen Schmusekurs mit der Historisch-kritischen Theologie» (276) begeben. Das zunehmende Eindringen liberaler Gedanken in einst fromme Werke ist aus Sierszyns Sicht eines der gravierenden Probleme des 20. Jahrhunderts. Die daraus resultierenden inneren Spannungen konnten in den frommen Werken nicht bewältigt werden. «Vereinigungen mit schwammiger Identität, werden kaum noch wahrgenommen.» (276)

d) Kontaktverlust

Zuletzt räumt Sierszyn ein, dass es vielen Erweckten wohl auch nicht gelungen sei, das Evangelium für die Herausforderungen der säkularen Welt zu übersetzen. Anders als in früheren Zeiten fehlten den «positiven Kreisen in Zürich profilierte Persönlichkeiten, die das pietistisch-reformatorische Gedankengut beherzt in die veränderten Zeitumstände einzubringen in der Lage wären.» (315) Gerade dieser Aspekt wird im Buch jedoch nur in Ansätzen benannt. Auch das dürfte jedoch ein gewichtiger Faktor sein, dass innerhalb und ausserhalb kirchlicher Kreise die Pietisten nicht als anziehende Kontrastgemeinschaft gesehen werden, sondern als Gruppe, die irgendwo den Kontakt mit den heutigen Menschen und ihrer Lebenssituation verloren hat. Die Stärke des jüngeren Pietismus scheint vor allem darin zu bestehen, in klassisch geprägten Milieus und Regionen fromme Gemeinschaftsbildung auch für die jeweils nachzurückenden Generationen ansprechend zu gestalten.

In einem zweiten Teil sollen nach diesem Überblick zum geschichtlichen Inhalt des Buches zwei Themen noch einmal kritisch angesprochen werden: Sierszyns Beschreibung der Evangelikalisierung des Pietismus in den letzten 50 Jahren und seine geschichtstheologische Gesamtsicht. «Frommes Zürich» von Armin Sierszyn, Teil 2 | Fokus Theologie