Gute Säkularisierung, schlechte Säkularisierung?!

Religiöse Wandlungen in der Gegenwart. Teil 4. | Von Thorsten Dietz

1. Wie konnte es dazu kommen?

Säkularisierung, der zunehmende Rückzug einer alles bestimmenden Religion, ist für manche der Untergang des Abendlandes. Für andere fühlt es sich an wie das allmähliche Erwachen aus einem tausendjährigen Alptraum.

Viele Altgläubige sahen im Erlöschen des Glaubens den sicheren Weg in Chaos und Untergang. Aufgeklärte Menschen glaubten hingegen, darin die Morgenröte eines besseren Morgens zu erkennen.

Gute Säkularisierung, schlechte Säkularisierung.

Das sind die lauten Stimmen. Die meisten Menschen wissen oder ahnen zumindest, dass es nicht so einfach ist. Für diese Menschen erzählt Charles Taylor eine andere Geschichte der Säkularisierung. Dass es nur eine ist, die vieles auslässt (trotz ihres Umfangs von 1200 Seiten) betont er immer wieder.

Was ist das Besondere seiner Erzählung? Säkularisierung ist jenseits von Gut und Böse. Sie ist kein notwendiger Prozess, dessen Ende sicher sei; sie war voller Zufälle und auch jetzt noch ist die Geschichte offen.

Taylor entfaltet eine grosse Gegenerzählung zu den simplen Narrativen unserer Zeit, der Subtraktionsgeschichte und der Verfallsgeschichte.

Die Subtraktionsgeschichte lautet kurz und knapp: Einst sagten uns die Religionen, wie die Welt entstanden ist, was über und unter und ist und welche Zukunft wir erwarten. Die Religionen begründeten die Macht des Staates und die Moral der Gesellschaft. In der Moderne wurde deutlich, dass die Naturwissenschaften, Demokratie und Humanismus dies sehr viel erfolgreicher tun. Die Religion haben keinen Nutzen mehr für die Gesellschaft insgesamt.

Die Verfallsgeschichte geht umgekehrt davon aus, dass technisches Wissen keine Sinnfragen beantworten kann, staatliche Macht ohne letzte Bindung an Gott willkürlich und gottlose Moral beliebig wird.

Menschen, die so denken, haben offensichtlich das Bedürfnis, nach einfachen Erklärungen für das Ganze und seine Geschichte zumal. Das ist leider keine realistische Erwartung. Aus dieser Sehnsucht löst man sich nicht über Nacht. Aber vielleicht hilft ja schlichte Überlegenheit einer besseren Geschichte.

2. Die lange Vorgeschichte der Säkularisierung

a) Die achsenzeitliche Revolution

In frühen Formen der Religion führen Menschen ein grundsätzlich „eingebettetes Leben“ (251), und das in mehrfacher Hinsicht, wie wir im ersten Teil zu Taylor gehört haben. In der frühen Religion sind Menschen eingebunden in eine dichte soziale Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft ist zugleich verbunden mit der Natur bzw. mit elementaren Naturerscheinungen: dem Wasser oder dem Feuer, Bäumen und Bergen. Und in dieser Einbettung gehören Leib und Seele untrennbar zusammen.

Diese Phase der Einbettung wird nach und nach abgelöst von einem Entwicklungsschub, den man als achsenzeitliche Revolution bezeichnet (260ff.). Gemeint ist eine geistige Revolution, die zwischen 800 und 200 v. Chr. in unterschiedlichen Kulturen u. a. zu Hochreligionen führt, deren Ausstrahlungskraft heute noch lebendig ist (Konfuzius, Laotse, Buddha, die Propheten Israels, Zarathustra, Sokrates, Platon etc.).

In der Achsenzeit setzt sich der Gedanke absoluter Transzendenz durch. Gott und Welt werden deutlich unterschieden. Universale Ideen wie Vernunft, Gerechtigkeit, Menschheit etc. treten an die Stelle eines Denkens, in dem es um die eigene Gruppe im Unterschied zu anderen Gemeinschaften ging. Mit diesem Wandel begann eine gewisse „Exkarnation“ (491; 1021) der Religionen, auch wenn es noch lange Zeit eine Verbindung zwischen solchen achsenzeitlichen Impulsen und der alten naturreligiösen Verwobenheit von Menschen, Gemeinschaft und Natur gab (730ff.).

b) REFORM

Vor allem im lateinischen Christentum kommt es seit dem Hochmittelalter zu unterschiedlichen Aufbrüchen, denen es um eine Reform des Glaubens geht. Diese Bestrebungen bestimmen die nächsten Jahrhunderte, sowohl als innerkirchliche Reformbemühungen als auch im großen Bruch zwischen der katholischen und der entstehenden evangelischen Christenheit. Diese Bewegungen wollen eine größere Durchdringung der ganzen Gesellschaft mit Glauben. Jeder Einzelne soll den Glauben zu seiner persönlichen Angelegenheit machen.

Die Gesamtheit dieser Reformbewegung bezeichnet Taylor als REFORM (112ff.; 183f.; 196f. 452ff.). Es gibt einen klassischen Typ katholischer Neuzeitkritik, für den die protestantische Reformation (und der sie ermöglichende Nominalismus) die Mutter aller Übel ist. Hier seien Subjektivität des Glaubens, Loslösung von der Tradition und der Ordnung der Kirche tumultuarisch befördert worden. Aus Taylors Sicht wäre das eine ungerechtfertigte Verkürzung. In der Reformation zeigt sich letztlich eine geistige Haltung, die es zuvor in kirchlichen Reformbestrebungen oder in der späteren „Gegenreformation“ bzw. katholischen Reform gegeben habe. Das Gemeinsame ist der oben beschriebene Versuch, die ganze Gesellschaft geistlich zu durchdringen. „Es gibt nur noch diese eine unerbittliche Ordnung des richtigen Denkens und Handelns, die den gesamten sozialen und persönlichen Raum ausfüllen muss.“ (454)

Vielfach waren diese Bewegungen sehr erfolgreich. Vor allem das konfessionelle Zeitalter nach der Reformation erwies sich als eine Zeit, in der die Gesellschaft so stark wie nie zuvor von einheitlichen Formen des Bekennens, der Liturgie, der moralischen und kirchlichen Ordnung etc. bestimmt wurden. Tatsächlich schreitet durch diese Reformen die weitere Entbettung der Religion voran. Für Taylor waren es gerade diese Strömungen, die viele Praktiken der Volksfrömmigkeit als Aberglaube ablehnten. Europaweit gingen diese Reformbemühungen mit Spaltungen einher, die das Gemeinschaftsband der Gläubigen insgesamt schwächten. Vor allem machten diese Entwicklungen neue Gedanken möglich:

Es könnte religiös auch ganz anders sein. Unsere Frömmigkeitskultur war nicht schon immer so. Sie ist in unserer Zeit durchgesetzt worden. Schon im Nachbarland gibt es andere Verhältnisse. Religion verliert ihre Fraglosigkeit.

Für Taylor haben diese Reformanstrengungen nicht nur religiöse Prägung vertieft, sondern auch grundsätzlichen Zweifel möglich gemacht.

Für Taylor ist das eine der grundlegenden Einsichten:

Säkularisierung ist geradezu ein Produkt der abendländischen Religionsgeschichte. Kein säkulares Bewusstsein kann sich selbst und seine Zeit verstehen, ohne eine deutliche Vorstellung zu haben von der religiösen Welt, von der es sich emanzipiert weiss.

3. Der Aufstieg einer säkularen Alternative

3.1 Desengagierte Vernunft

Die Möglichkeit einer rein immanenten Weltorientierung tat sich nicht über Nacht auf. Ein säkularer Humanismus ist alles andere als eine natürliche Lebenseinstellung, die dort entsteht, wo die Religion sich verflüchtigt. Vielmehr sind die massgeblichen Aspekte einer säkularen Weltsicht aus der christlichen Vorstellungswelt heraus entstanden.

Schon im 16. Jahrhundert entsteht eine Form rationaler Weltdeutung, die sich über die Konfessionsgrenzen hinweg durchsetzt. Die modernen Naturwissenschaften sind der sichtbarste Ausdruck.

Die modernen Naturwissenschaften sind weit davon entfernt, einen Gegenentwurf zur christlichen Ideenwelt darzustellen. Im Gegenteil: Die Suche nach einer logischen und in Naturgesetzen verfassten Verstehbarkeit der Welt ist zutiefst vom Glauben an einen vernünftigen und gesetzgebenden Schöpfergott inspiriert. (Taylor 169).

Und doch entsteht etwas Neues. Die Vernunft wird zunehmend abgelöst von der Bevormundung durch konfessionelle Kirchendogmatik und damit auch aus der Einbettung in einen Gesamtrahmen alles Wissens. Erkenntnis ist nun nicht mehr Abbildung einer theo-kosmischen Ordnung, Wissenschaft führt zu praktisch orientiertem Verfügungswissen. Die moderne Naturwissenschaft will nicht das Wesen der Natur ergründen, sondern ihr Funktionieren nachvollziehen und beherrschbar machen. Die moderne Erkenntnistheorie setzt den neutralen Beobachter voraus, der nicht mehr eingebunden ist, sondern experimentell und mathematisch technischen Umsetzungen zuarbeitet. Ganz anders als z.B. in der klassischen Theologie, wird nun das desengagierte, beobachtende Subjekt zum Leitbild der Erkenntnis.

3.2 Freiheit und Selbstbestimmung

Im modernen Liberalismus und Utilitarismus erlangte das Ideal des freien, selbstbestimmten Lebens einen Stellenwert, der für die gesamte Moderne zunehmend zum Leitbild wurde. Traditionelle Ordnungen schrieben eine Hierarchie vor, in die der Einzelne sich ein- und unterordnet. Die gesamte Entwicklung zur modernen Individualität führte zu einer Emanzipation solcher hierarchischer Rahmenvorstellungen. Solche Entwicklungen werden nicht zuletzt auch von christlichen Gruppen angetrieben. Puritaner in den nordamerikanischen Kolonien errichten erste staatliche Ordnungen mit Religionsfreiheit für alle. Es sind vor allem die Evangelikalen in Grossbritannien, die sich für die Abschaffung der Sklaverei einsetzen und darin so etwas wie die Mutter aller sozialen Bewegungen werden. Der Humanismus mit seiner Wertschätzung des Menschen ist in seinen Anfängen auch überall dort, wo er sich im Gegensatz zur Kirche formuliert, von christlichen Ideen durchdrungen. Zugleich greifen Humanisten verstärkt auf antikes Erbe, vor allem den Stoizismus zurück. Vorchristliche Gedankenwelten gewinnen neuen kulturellen Einfluss.

3.3 Bejahung des gewöhnlichen Lebens

Seit der Reformation tritt die starke Jenseitsorientierung des christlichen Abendlandes zurück. Schon die Reformatoren bejahten das gewöhnliche Leben (Beruf, Ehe, Familie) und sahen darin den Ort des täglichen Gottesdienstes des Menschen.

Im Verlauf der kulturellen Entwicklung wird die religiöse Wertschätzung des natürlichen Lebens immer wichtiger.

Christliche Autoritäten bemühen sich immer stärker, den Alltag der Gläubigen mit den Herausforderungen in Ehe und Familie geistlich zu begleiten.

3.4 Wohltätige Ordnung

Eng damit verbunden ist das Bestreben, diesen Zielen auch rechtliche Gestalt und Durchsetzungsmöglichkeit zu verschaffen. Der Moderne wird oft ein rationalistisches Gepräge zugeschrieben. Tatsächlich wäre sie ohne ihre soziale Seite kaum so erfolgreich geworden. Wohlfahrt für alle wird ein immer einleuchtenderes Ziel in vielen Bereichen.

Medizinische und soziale Versorgung werden immer stärker ausgebaut. Leid zu verhindern oder zu minimieren wird ein moralischer Imperativ von unbedingter Geltung. Reformbewegungen setzen sich für dieses Ziel in immer neuen Zusammenhängen ein: im Strafsystem, im Krieg, im Arbeitsschutz, in der Gesundheitsversorgung, in der internationalen Entwicklungshilfe. Die allgemeine Wohlfahrt wird zum Ziel aller staatlichen und sozialen Kräfte in der Gesellschaft.

3.5. Postreligiöse Möglichkeiten

Was passiert in diesen Bewegungen? Eine Lebensorientierung wird denkbar, die sich nicht mehr in erster Linie religiös versteht. Eine Schlüsselbedeutung hat dafür die Bewegung des Deismus, die für eine möglichst vernünftige und praktische Auslegung des Christentums eintrat. Viele klassisch christliche Überzeugungen traten für viele in den Hintergrund. Nach ersten Anfängen im 17. Jahrhunderts ist es im 18. Jahrhundert in manchen Kreisen vorstellbar geworden, als Atheist zu leben.

Zugleich bleibt das noch für eine lange Zeit die Ausnahme.

Bis weit nach dem 2. Weltkrieg ist die überwältigende Mehrheit der Menschen im Westen Mitglied einer Kirche. So sehr ist die allgemeine Kultur mit dem Einfluss der grossen Kirchen verschmolzen.

Die Religion scheint den meisten Menschen immer noch unverzichtbar. Erst die Entwicklungen des 19. Jahrhunderts ermöglichen eine weitergehende Ablösung.

4. Das Zeitalter der Authentizität

4.1 Individueller Expressivismus

Vor allem in der Romantik entdecken sich Menschen als Geschöpfe mit innerer Tiefe.

Grundlegend ist der Gedanke der Individualität. Jeder Mensch hat seine eigene Natur, sein eigenes Wesen und die Bestimmung, diese zu entwickeln und auszudrücken.

Die historische Herkunft des Gedankens aus dem Christentum ist offenkundig. Der christliche Gedanke der Gottebenbildlichkeit führt zu einer verstärkten Hinwendung zum eigenen Selbst als Abbild Gottes. Durch die Vermittlung von Renaissance und Humanismus wird dieser Strang in der Romantik wesentlicher Bestandteil der modernen Identität. Klassische Ausprägung erhält dieser Gedanke bei Hamann, Herder, Humboldt (, die Taylor gerne als Triple-H bezeichnet). Die Erkundung des eigenen Selbst, die Artikulation eigener Identität, die Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit, die Achtsamkeit auf die eigene Geschichte – dieser Komplex moderner Werte ist ohne diesen Hintergrund nicht zu denken. Jeder Mensch ist ein Original, mit einzigartigen Begabungen und Eigenschaften. Mit diesem Strang verbunden sind die Hochschätzung der romantischen Liebesehe.

Was entsteht mit diesem expressiven Individualismus? Eine positive Eigenwelt für das empfindende Selbst. Ein alternativer Gefühlskosmos, der vielen als tief und inspirierend genug erscheint, um die religiöse Erfahrungswelt ganz hinter sich zu lassen.

Gottesdienste und Kirchenmusik sind nicht mehr die einzig denkbaren Feiern für die grosse Menge. Die Kunst wird zuerst in den Städten eine alternative Möglichkeit von Ergriffenheitserfahrungen. Das Erlebnis der Oper, der Zauber einer Symphonie, die geistreiche Unterhaltung eines Schauspiels oder der Zauber eines Balletts – all das stiftet nun alternative Begeisterungsformen mit grosser Gefühls- und Gedankentiefe.

Später wird der Sport ähnliche Bedeutung bekommen. Populäre Musik macht aus der Kunst für das gehobene Bürgertum eine Rauschoption für die allermeisten. Nicht nur heilige und erbauliche Schriften stehen der Suche nach seelischer Erhebung zur Verfügung. Vor allem Romane in allen möglichen Qualitätsstufen für alle möglichen Leseinteressen geben Gelegenheit zu andächtiger Lektüre. Überall öffnen Museen und zeigen Schönes und Herausforderndes, Lehrreiches und Unterhaltsames.

Ein Säkulares Zeitalter entsteht nicht einfach durch den Wegfall von Religion. Wesentlich ist auch die Entstehung neuer positiver Quellen eines humanen Alltags – der zunehmend klassische Kirchenangebote alt aussehen lässt, vielleicht sogar überflüssig.  

4.2 Zeitalter der Authentizität

Spätestens seit den 1960er Jahren gibt es eine Verstärkung dieser expressivistischen Tendenzen. Taylor bezeichnet diese neue Phase als Zeitalter der Authentizität. Die Vorstellung, dass jeder Mensch über eine gang eigene Originalität verfüge, mit der es im Einklang zu leben gilt, hat tiefe Wurzeln, im christlichen Abendland, in den Erweckungsbewegungen mit ihrer Betonung der eigenen Bekehrung und der persönlichen religiösen Gefühle, schliesslich in den vielfältigen Strömungen der modernen Romantik.

Treue zu sich und Bestreben eigener Selbstentfaltung werden im 20. Jh. einflussreiche moralische Ideale der breiten Masse. Wurde dieses Ideal im 19. Jahrhundert bestimmend für gehobene Bürgertum, so wird seine durchgreifende Prägekraft seit den 1960ern Allgemeingut aller Gesellschaftsschichten.

Es geht dabei nicht um eine neue Denkweise oder irgendetwas Theoretisches. Dieses Zeitalter der Authentizität drückt sich aus in vielfältigen sozialen und kulturellen Erscheinungen.

  • Konsum. Das Bewusstsein, Einkaufen bewusst zu gestalten und dabei die Wahl zu haben, wird immer selbstverständlicher. Nach dem Ende der letzten Hungersnöte in Europa Mitte des 19. Jahrhunderts wird eine konsumorientierte Lebenshaltung immer verbreiteter.
  • Wahlmöglichkeiten. Überhaupt sind Wahlmöglichkeiten zunehmend selbstverständlich und prägend, von der Wahl politischer Parteien über die Wahl des eigenen Berufs bis zur Wahl von musikalischen oder sportlichen Präferenzen. Wählen wird dabei zur Ausdrucksmöglichkeit des eigenen Selbst. Seinen eigenen Stil finden, so lautet der Universalauftrag für viele Lebensbereiche: Essen, Kleiden, Wohnen, Reisen, Denken, Glauben.
  • Rehabilitation der Sinnlichkeit. Noch das Viktorianische Zeitalter im 19. Jahrhundert war unter kirchlich-christlichem Einfluss vielfach sinnenskeptisch und körperfeindlich, mehr als selbst die Puritaner des 17. Jahrhunderts. Nun kommt es zu einer umfassenden Neuorientierung, die sich durch alle sozialen Gruppen zieht. Die Entdeckung des Körpers geht einher mit der Neuentdeckung der Natur, des Wanderns und des Reisens, der Achtsamkeit auf die eigene Gesundheit. Sport wird für viele eine Entdeckung der persönlichen Bereicherung.
  • Verändertes Sexualverhalten. Im Zuge der neuen Sinnlichkeit wird der soziale Druck, ausserhalb der Ehe asexuell leben zu müssen, immer seltener befolgt. Die Entdeckung gemeinsamer Lust schon vor der Hochzeit wird von der Abweichung zur Regel.
  • Toleranz. Im Zeitalter der Authentizität wird vieles möglich, aber die Folge ist keine völlige Beliebigkeit: „Man sollte die Werte der anderen nicht kritisieren, weil sie genauso wie man selbst das Recht haben, ihr eigenes Leben zu führen. Intoleranz ist die Sünde, die nicht toleriert wird.“ (807)
  • Folgen für die Religion. Viele dieser Tendenzen sind von kirchlicher Seite kritisiert worden. Zugleich zeigten sich diese Tendenzen von Anfang an auch in den Religionen. Immer stärker setzte sich in allen Lagern die Einsicht durch: „Das religiöse Leben, die religiöse Praxis, an der ich mich beteilige, muss nicht von mir gewählt worden sein, sondern sie muss mich auch ansprechen – sie muss im Sinne meiner spirituellen Entwicklung deutbar sein.“ (811)

5. Ausblick: Spiritualität in der Gegenwart?!

Dieses Klima verändert die Kirchen. Die Katholische Kirche hat sich mit dem zweiten Vatikanum (1962-65) auf einen Weg begeben, der grundsätzlich von dieser Zeitstimmung geprägt ist. Für den Protestantismus gilt dies noch viel mehr. Diese Veränderungen werden jedoch von vielen nicht mehr registriert, zumal in der Öffentlichkeit viel offensichtlicher zu sein schein, wo die Kirchen dem neuen Selbstverständnis entgegenstehen.

a) Ausgrenzender Humanismus

Der Austritt aus den Kirchen wird ab den 1960er Jahren ein Massenphänomen. Auf diesem Weg entsteht auch eine Haltung, die Taylor als „ausgrenzenden Humanismus“ (42) bezeichnet:

Ausgrenzender Humanismus: eine säkulare Geisteshaltung, die nicht nur jeden Glauben für sich ablehnt, sondern grundsätzlich Religion als bedrohlich, rückständig und überflüssig ansieht und aus der Öffentlichkeit verbannt wissen möchte. Die Abkehr von Religion wird als Hinwendung zu einem Leben in selbstbestimmter Freiheit verstanden. Religion gilt als rigide und repressiv, als leibfeindlich und ausgrenzend, als intolerant und veraltet.  

Für Taylor ist diese Haltung dem früheren christlichen Dogmatismus der REFORM recht ähnlich geworden. Dieser exkludierende Humanismus führt den Absolutheitsanspruch weiter, der religiöse Reformbewegungen der frühen Neuzeit gekennzeichnet hat.

b) Wider die falsche Subtraktionsgeschichte

Taylors Erzählung ist von Anfang an eine Gegenerzählung zu diesem vereinfachten Verständnis von Säkularisierung, das sich im Bewusstsein des ausgrenzenden Humanismus durchgesetzt hat.

In dieser Perspektive ist Säkularisierung eine Subtraktionsgeschichte. Einst war die Religion die Quelle von allem. Die Religion gab Erklärungen zu Anfang und Ende des Universums. Die Religion bietet eine objektive Moral, an die sich alle halten. Die Religion begründet die Macht des Staates. Die Religion gibt Trost und Hoffnung.

All diese Funktionen seien im Laufe der Modernisierung abgelöst worden. Die Wissenschaften erklären das Universum bzw. alles, was überhaupt verstanden werden kann. Moral hat menschliche Quellen wie Vernunft und Mitgefühl. Der Staat bedarf keiner Begründung von aussen, er bedarf der Zustimmung freier Bürger. Trost und Hoffnung beziehen Menschen aus unterschiedlichen Quellen, aus dem Miteinander, Liebe und Familie, aus der Kunst und dem Engagement für andere.

In der Moderne wird Religion nicht mehr gebraucht. Nur Fundamentalisten halten immer noch an den klassischen Funktionen der Religion fest. Weil sie keine Zustimmung mehr finden, suchen sie diese zu erzwingen durch Propaganda, Zwang und Terror.

Diese Subtraktionserzählung ist in Taylors Augen vor allem flach. Wie gesehen, ist es sehr viel komplizierter und komplexer. Die säkulare Welt ist unentrinnbar postchristlich. Sehr viele Gegensätze von Moderne und Religion sind keineswegs nötig. Anders als in der Subtraktionsgeschichte – ist der Niedergang der Religion weder notwendig oder zwangsläufig. Viele vermeintlichen Errungenschaften der Abkehr von der Religion sind letztlich tief verwurzelt in der Christentumsgeschichte. Die diktatorischen und inhumanen Züge der Kirchen sind zuerst von christlichen Dissidenten kritisiert worden.

Die Zukunft steht nicht fest. Die Behauptung einer zwangsläufigen Säkularisierung ist daher so dogmatisch, wie es die Endzeitfahrpläne von fundamentalistischen Gläubigen sind.

In den letzten Kapiteln seines Buches möchte Taylor zeigen, dass es in dieser Zukunft auch für die Religion immer neue Chancen gibt. Denn allen Wandlungen zum Trotz gibt es nach wie vor Grund zur Annahme, dass es bleibende spirituelle Fragen und auch immer neue Bekehrungen zu Formen der Spiritualität geben wird, auch im säkularen Zeitalter. Diesem Aspekt wenden wir uns im nächsten Teil unserer Serie zu.

Literatur

Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter. Berlin 2012.