Erstaunt stelle ich fest, dass ich mit mir selber rede. Oder eher diskutiere. „Will ich das wirklich? Was wäre, wenn? Vergiss nicht, dass … Haut ab, ihr blöden Gedanken!“ Eigentlich wollte ich beten, aber mittendrin bin ich ins Selbstgespräch gerutscht. Ist das jetzt noch beten? Oder lässt sich beides gar nicht trennen?
Wenn wir uns beim Beten einmal selbst beobachten, kommt schnell die Frage: Wer redet hier eigentlich mit wem, und wie viele Stimmen sprechen in unseren Gebeten mit?
Im Folgenden möchte ich beginnen, auf die Vielstimmigkeit des Betens zu lauschen und von dort aus noch einmal neu zu fragen: Was geschieht, wenn wir beten? Ich glaube, dass sich dabei unsere Vorstellung vom Gebet weitet und unsere Gebetspraxis reicher wird. Als Quelle ziehe ich die Gebetserfahrungen betender Menschen heran, hauptsächlich jene, von denen die Psalmen berichten, aber auch andere und eigene.
1. Sich selbst sprechen hören
Die Grunderfahrung des Betens ist zunächst mal schlicht: Ich spreche. Ohne sprechendes Ich kein Gebet.
Wer betet, bringt sich selbst und das eigene Leben in allen Facetten vor Gott zur Sprache. Die Fülle an Themen und Stimmungen ist beeindruckend: von hoch bis tief, jubelnd bis niedergeschlagen, freudig bis wütend.
Neben dieser expressiven Dimension hat das Gebet zugleich eine rezeptive: Ich höre. Was und wen ich höre, das ist wiederum auch vielstimmig. Es können Mitmenschen, Mitkreaturen oder auch Gottes Stimme sein. Es kann aber auch die Stimme sein, über die wir vielleicht oft hinweghören, weil sie uns am nächsten liegt. Ich meine die eigene Stimme. Beten heisst nämlich auch:
Ich höre mich selbst sprechen. Wenn das geschieht, wird das Gebet zu einem Selbstgespräch.
2. Mit sich selbst reden
Manchmal tun mir meine Gesprächspartner:innen einen grossen Gefallen und fragen: „Sag mal, hörst Du Dich eigentlich selbst reden?“ Innehalten und sich noch mal zurücknehmen, bevor man weiterredet, kann enorm förderlich sein. Das gilt auch beim Beten, und zwar ganz grundlegend.
Vermutlich käme manches Gebet gar nicht zustande, ohne dass wir erst mal in ein hörendes und antwortendes Verhältnis zu uns selbst treten.
So erfahren es jedenfalls die Beter:innen der Bibel, von denen es in Sachen Selbstgespräch einiges zu lernen gibt.
a) Selbstaufforderung
In den Psalmen beginnt Beten an vielen Stellen mit einer Selbstermunterung, einer Selbstaufforderung:
„Ich will den HERRN preisen allezeit, immer soll sein Lob in meinem Munde sein.“
Psalm 34,2
Der Beter spricht mit seiner Seele, seinem Inneren:
„Lobe den HERRN, mein Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen. Lobe den HERRN, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“
Psalm 103,2
Anscheinend betet es sich nicht von selbst oder automatisch. Was wohl die Gründe für die eigene Gebetsträgheit sein mögen?
b) Selbstreflexionen
Das betende Selbstgespräch setzt sich auf vielfältige Weise fort. Der Beter fragt seine Seele nach ihren Ängsten:
„Was bist du so gebeugt, meine Seele, und so unruhig in mir?“
Psalm 42,6
Das betende Ich überlegt, was es möglicherweise sagen könnte, dann aber doch nicht tut:
„Hätte ich gesagt: So will auch ich reden, dann hätte ich die Generation deiner Söhne verraten.“
Psalm 73,15
Die Vervielfältigung der eigenen Stimme wird auch darin hörbar, dass die betende Person reflektiert, was sie früher einmal gesagt hat:
„Ich aber sprach in meiner Sorglosigkeit: Nie werde ich wanken.“
Psalm 30,7
Der Beter zitiert und rezitiert sich selbst.
c) Inspiriertheit
Menschen, die beten, machen also die Erfahrung, dass sich ihre Stimme vermehrt. Sie hören sich selbst und sprechen zu sich selbst. Dabei kann ihnen die eigene Stimme als andere, überraschende und fremde gegenübertreten. Dies geschieht in den Psalmen besonders dort, wo der Beter sich als inspiriert erfährt:
„Mein Herz ist bewegt von schöner Rede, vortragen will ich mein Gedicht zur Ehre des Königs. Meine Zunge ist der Griffel eines gewandten Schreibers.“
Psalm 45,2
In seinem Buch „Psalterspiel“, von dem ich viel über die Psalterstimmen gelernt habe, fasst Günter Bader es so zusammen (S. 380): „Je gründlicher die eigene Stimme fremd spricht, schreibt, singt, desto inspirierter wird sie.“ Damit deutet sich bereits an, dass letztlich noch eine ganz andere Stimme mitspricht, nämlich jene göttliche, von der die Inspiration ausgeht. Sie wird uns im dritten Teil der Polyphonie des Betens beschäftigen.
3. Betend ein stimmiges Selbstverhältnis einüben
a) Selbstgespräche sind nicht selbstverständlich
Gereifte Persönlichkeiten haben gelernt, ein Gespräch mit sich selbst führen zu können.
Es gehört Übung dazu, die verschiedenen Stimmen in uns zu vernehmen und sprechen zu lassen. Oft scheint es einfacher, die eine dominieren zu lassen und die andere zum Verstummen zu bringen.
Warum sich das nicht lohnt, hat der Soziologe Hartmut Rosa am Beispiel des Begehrens illustriert: Würden wir unseren Begehrungen immer nachgeben, stürbe die eigene Stimme ab, mit der wir auf unser Begehren antworten. Wenn wir aber unserem Begehren nie nachgeben, verhärten wir gegenüber uns selbst und der Welt und werden entlang dieser Achse resonanzunfähig (siehe dazu Rosa: Unverfügbarkeit, S. 116-123).
Selbstgespräche sind menschlich und machen menschlich. Sie sind verheissungsvolle Weisen, auf die wir uns zu uns selbst verhalten; zu dem, was wir ersehnen, begehren, fürchten und leiden, aber auch zu dem, was wir in uns entdecken und bestaunen.
Wir machen das, was in uns ist und doch zugleich anders ist als wir selbst, zum Thema eines inneren Gesprächs und lernen uns selbst dabei besser kennen.
b) Sich selbst begegnen braucht passenden Raum
Wenn wir uns in tiefer Weise auf uns selbst einlassen, brauchen wir dafür Zeit und Raum. Und gerade, weil wir nicht kontrollieren können, was alles geschehen mag, ist es gut, wenn dieser Raum uns Schutz bietet. Das Gebet öffnet diesen Raum und birgt uns darin. Hier ist niemand dabei und redet rein, hier kann ich alleine mit mir sein und muss mich für nichts schämen, was ich äussere. Alles kann zur Sprache kommen zwischen überraschender Selbstbegeisterung und abgründiger Selbstverzweiflung.
Beten heisst: Ich werde in der Gegenwart Gottes zu einem Menschen, der mit sich selbst reden und klarkommen kann.
Gerade in einer Zeit, in der ein Dauergewirr von Stimmen unsere Aufmerksamkeit hat und ständig mitreden will, kann das Gebet heilsame Kräfte entfalten.
c) Ist Gott der Raum, in dem ich zu mir finde?
Eine Gegenwart Gottes, die mich allein mit mir selbst sein lässt? Eine Abwesenheit Gottes, die durch seine Anwesenheit geschützt wird? Ich habe dieses paradoxe Erlebnis in den vergangenen Jahren ab und zu gemacht.
Es fühlt sich weniger als ein Beten zu Gott und mehr als ein Beten in Gott an.
Als würde er selbst die kleine, abgedunkelte Kirche halten und schützen, damit ich drinnen von nichts und niemand gestört werde. Als sei Gott selbst der Raum, in den ich trete, um Selbstgespräche führen zu können.
4. Gottes Stimme im eigenen Selbstgespräch
Im Raum des Gebets hält Gott nicht nur die anderen, sondern auch seine eigene Stimme zurück. Diese Erfahrung des schweigsamen Gottes ist wohltuend und unangenehm zugleich, aber gerade diese Doppelheit lässt die Gebete der Menschen reifen und erwachsen werden.
a) Die zurückhaltende Stimme Gottes – eine Wohltat
Es tut gut, mit sich selbst allein sein zu können. Ein Gott, der den Menschen – salopp gesagt – ständig auf der Pelle hängt, würde uns erdrücken. In seinem Buch „Der Zwang zur Häresie“ hat es der Religionssoziologe Peter L. Berger einmal so gesagt:
„Sprächen die Engel die ganze Zeit, würde das Lebensgeschäft wahrscheinlich völlig zum Erliegen kommen. Die Gesellschaft könnte nicht überleben, wäre sie starr, unverrückbar auf die Begegnung mit dem Übernatürlichen eingestellt.“
Karl Gabriel und Hans-Richard Reuter: Religion und Gesellschaft, S. 165.
b) Die zurückgezogene Stimme Gottes – eine Zumutung
Man kann darüber diskutieren, ob Gott so etwas ähnliches wie eine Person ist und unsere Gebete hört und darauf antwortet.
Wenn aber das Gebet ein personal-dialogischer Akt zwischen Mensch und Gott ist, dann lässt es die Beter:innen mit der Zeit aus allzu naiven und infantilen Gebetsformen herauswachsen.
Dies geschieht unter anderem dann, wenn Gott uns seine Stimme entzieht. Das bequeme und wohltuende Beten wird zu einem unangenehmen Schubs, sich erst mal selbst klar darüber zu werden, wer man ist, was man will, ja, mit sich und dem Leben klarzukommen. Der erste Satz, den Jesus im Johannesevangelium spricht, weist in diese Richtung: „Was sucht ihr?“ (Joh 1,38).
Vielleicht schwingt dieser Zusammenhang zwischen betender Reife und Gottesentzug auch bei Dietrich Bonhoeffer mit, wenn er erschreckend klar schreibt:
„So führt uns unser Mündigwerden zu einer wahrhaftigeren Erkenntnis unserer Lage vor Gott. Gott gibt uns zu wissen, dass wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt (Markus 15,34)!“
Widerstand und Ergebung, DBW 8, S. 533
c) Die anstimmende Stimme Gottes – auch eine Wohltat
Zum Glück ist die zurückgezogene Stimme nicht die einzige und schon gar nicht letzte Erfahrung, die Menschen machen, wenn sie sich betend im Selbstgespräch finden. Denn in ein resonantes Verhältnis zu sich selbst kommen, ist gar nicht so einfach.
Die inneren Un-Stimmen, die andere oder wir selbst uns beigebracht haben, blockieren uns. Manche Sätze, die unser inneres Gespräch erlösen, können wir uns selbst nicht oder zumindest nicht immer sagen.
Wenn sie dann aber doch über und in uns kommen, widerfährt uns Inspiration. Was ist passiert?
Eine Stimme von aussen hat uns angestimmt, so dass die zunächst fremde zu unserer eigenen Stimme wird. Aus dem vernommenen „Ich sehe Dich und traue Dir das zu“ schaut die Beterin sich selbst an und spricht: „Auf, los jetzt! Es wird gut!“
Was der Reformator Johannes Calvin ganz am Anfang seines monumentalen Werkes „Institutio: Unterricht in der christlichen Religion“ als Zusammenspiel von Selbst- und Gotteserkenntnis beschreibt, ist eine Grunderfahrung des Betens: Das Zusammenstimmen von Selbstgespräch und Gottesgespräch.
Literaturtipps
Günter Bader: Psalterspiel. Skizze einer Theologie des Psalters. Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 54, Tübingen 2009.
Niklaus Brantschen: Gottlos beten. Eine spirituelle Wegsuche, Ostfildern 2021.
Bausteine zum Weitermachen
Unsere Dossiers mit all ihren Beiträgen wollen dazu ermutigen, das jeweilige Thema in eigenen erwachsenbildnerischen Projekten, Angeboten oder Veranstaltungen mit anderen weiter zu verfolgen. Hier ein paar Anregungen:
Auf Stimmenfang (Gruppenarbeit)
Die Gruppenleitung bereitet geeignete Psalmentexte, in denen die Vielstimmigkeit des Gebets hörbar wird, vor, so dass die Teilnehmer:innen gemeinsam herausfinden können, welche Stimmen mit welchen Aussagen, Absichten und Wirkungen zur Sprache kommen. Diese Gruppenarbeit eignet sich als Einstieg, bei dem die Teilnehmer:innen erst mal selber entdecken, wer alles beim Beten mitspricht.
Fragen zum Austausch in kleineren Gruppen oder zu zweit
Was empfinden Sie, wie fühlt es sich an, wenn Sie merken, dass Ihr Gebet (immer wieder) zu einem Selbstgespräch wird?
Welche Erfahrungen haben Sie mit betenden Selbstgesprächen gemacht? Was hat sich als förderlich und vertiefend für das Gebet erweisen, was als lebenstauglich, was war eher fragwürdig?
Was denken Sie über die Vorstellung von Gott als Raum, in dem die Menschen beten? Inwiefern könnte diese Idee Ihr Verständnis und Ihre Praxis des Gebets vertiefen, inwiefern hindern? In welchem Verhältnis stehen Ihrer Meinung und Ihrer Erfahrung nach das Beten zu Gott und das Beten in Gott?
Welches könnten die Themen sein, die wir im Gespräch mit uns selbst zur Sprache bringen?
Ein Psalm an die eigene Seele (Einzelarbeit)
Die Gruppenleitung bietet den Teilnehmer:innen die Möglichkeit, in einem geschützten Rahmen ein Selbstgespräch zu probieren, einzuüben oder gar zu formulieren. Dieses Gespräch kann unterschiedliche Formen annehmen, etwa die Form einer Geburtstagskarte, eines Briefes, eines Dialoges oder eines Konfliktgesprächs.
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