Religion und Erfahrung. William James und die Vielfalt des Religiösen 

Religiöse Wandlungen in der Gegenwart. Teil 2. | Von Thorsten Dietz

1. Einleitung 

Wenn ich die Frage beantworten sollte, wer mich mit seiner Sichtweise auf Religion und auch Theologie in den letzten 20 Jahren am nachhaltigsten beeindruckt und verändert hat, wäre meine Antwort: William James (1842-1910). Nicht er allein, aber er zuerst. Was macht seine Perspektive so besonders? Die Tatsache, dass er wie wenig andere vertraut war mit sehr unterschiedlichen geistigen Strömungen seiner Zeit – und entsprechend aus mehr als einer Blickrichtung auf die Religion schauen konnte. Schon sein Lebenslauf zeigt dies. 

James wurde 1842 in New York in eine sehr wohlhabende Familie (Bruder ist der Schriftsteller Henry James) geboren. Nach dem Studium der Malerei, Chemie, Medizin und Psychologie (u. a. in Deutschland) 1861-68 und dem Examen in Medizin 1869 wurde er 1872 Professor an der Harvard-Universität, zunächst für Physiologie und Anatomie, ab 1876 für Psychologie. 1885 wechselte er zur Philosophie. Zu seinen wichtigsten Werken gehört das psychologische Hauptwerk Principles of Psychology (2 Bände, 1890). 1901/02 hält er schließlich die renommierten Gifford-Lectures über Die Vielfalt der religiösen Erfahrung (1902).  

James war in zwei Welten des modernen Geistes zuhause, in den Natur- und in den Kulturwissenschaften. Auch religiöse Fragen beschäftigten ihn ein Leben lang, sowohl wissenschaftlich als auch persönlich. Ein solches Leben im Grenzbereich unterschiedlicher Denk- und Erfahrungsräume ist selten; und sehr ertragreich. 

2. Religiöse Erfahrungen 

a) Fundamentalistische Sackgassen 

Um 1900 gab es zwei auch heute noch einflussreiche Haltungen zur Religion. Auf der einen Seite gab es eine kirchen-dogmatische Sicht. Religion galt als Offenbarungstatsache, die man gegen eine anders- oder ungläubige Welt verteidigen musste, mit rationalen Gründen einer theologischen Apologetik und mit der autoritären Verpflichtung durch kirchlich-gemeindliche Disziplin.  

Auf der anderen Seite hatte sich in der Moderne eine andere Instanz entwickelt, der James schon durch seine Verankerung in der universitären Welt noch sehr viel näherstand. Die wissenschaftliche Beurteilung, für die Religion eine geschichtliche Erscheinung des menschlichen Geistes war, die es mit methodisch-rationaler Strenge zu erforschen galt.  

James setzte sich ausführlich mit einer rationalistischen Haltung im Umgang mit Religionen auseinander. Für diese stand fest: Es ist ethisch verwerflich, sich auf Annahmen einzulassen, die sich rational nicht rechtfertigen lassen. Allen möglichen Hypothesen müssen wir mit grundlegender Skepsis und Kritik begegnen und sie uns erst dann zu eigen machen, wenn sie rational stichhaltig sind. So auch im Umgang mit Religion.  

In seiner Vorlesung über die Vielfalt religiöser Erfahrungen machte James deutlich, dass diese beiden Zugänge einander verblüffend ähnlich sind. Sie suchen eine objektive Rechtfertigung oder Widerlegung der religiösen Wahrheit. Dabei gelingt es ihnen beiden nicht einmal, die Mannigfaltigkeit dessen, was Religion Menschen bedeutet, vor Augen zu führen.

Alle Versuche einer rein rationalen Beurteilung von Religion scheitern schon im Ansatz daran, dass sie ihren Gegenstand reduzieren und verzeichnen müssen, um ihn mit der eigenen Methodik in den Griff zu kriegen. 

Nach James besteht Religion nicht zuerst aus Sätzen eines Systems. Religion ist keine Welterklärung oder überhaupt eine theoretische Weltanschauung. Religion ist die „Gesamtreaktion eines Menschen auf das Leben“. (James, 67) Sie lebt in persönlichen Erfahrungen und Eindrücken, in hohen ethischen Idealen und in tiefen mystischen Erlebnissen, sie kann sich in religiösen Denksystemen verdichten, wie sie zugleich auch Alltag und Jahreskreis mit Ritualen, Festen und Feiern durchzieht. Und natürlich hat sie auch eine gemeinschaftliche Seite, auch wenn sich James in seiner Vorlesung weitgehend auf ihre Gestalt als persönliche Religion konzentriert. 

Religion ist nicht einfach eine richtige oder falsche Theorie, die man mit Apologetik stützen oder mit wissenschaftlicher Kritik widerlegen könnte.

Beide Ansätze sind reduktionistische Missverständnisse des Phänomens. Sie versuchen die Wahrheit bzw. Unwahrheit der Religion aus der Legitimität ihres göttlichen bzw. seelischen Ursprungs abzuleiten; und merken nicht, wie sehr sie das Phänomen in dieser vermeintlichen Reduktion auf sein Grundprinzip verfehlen.

Vor allem auch die Wissenschaft muss aufpassen, dass sie ihren Zugang zur Wirklichkeit nicht genauso dogmatisch absolut setzt, wie sie es den Wächtern kirchlicher Lehre vorwirft. „Die medizinischen Materialisten sind insofern nur verspätete Dogmatiker, die den Spiess einfach umdrehen, indem sie das Ursprungskriterium statt zur Beglaubigung einer Sache nun zu ihrer Destruktion verwenden.“ (James, 52) 

Keine dogmatische Setzung, nur die empirische Betrachtung des Religiösen kann in dieser Frage weiterführen.

Wer sich mit Religion auseinandersetzen möchte, muss hinsehen und zuhören. 

b) Religion als Erfahrungsrealität  

James ist auf der einen Seite wie die meisten Intellektuellen seiner Zeit tief beeinflusst von der Erklärungskraft der Naturwissenschaften. Er ist der Begründer einer naturwissenschaftlich orientierten Psychologie in den USA. Auf der anderen Seite sieht er die Religion als so bedeutendes Phänomen des menschlichen Seelenlebens, dass er sie nach wie vor für unverzichtbar hält. 

William James gelingt es in seiner Vorlesung höchst eindrucksvoll, die Bedeutung des religiösen Glaubens für das Leben des Menschen herauszustellen. Da sich religiöses Leben nur im Raum der Erfahrung Geltung verschafft, konzentriert er sich bei seinen religionsphilosophischen Überlegungen ganz auf die Beobachtung lebensweltlicher Phänomene, statt sich mit theoretischen Abhandlungen oder gar Gottesbeweisen zu beschäftigen. Dabei entfaltet er vor seinen Zuhörern ein Panorama von konkreten Fallgeschichten, die subjektives religiöses Erleben zur Sprache bringen. Denn er ist überzeugt: 

„Wenn wir uns selbst ausserhalb der Grenzen solcher Gefühle befinden, gibt es für uns nur ein stimmiges Vorgehen: die, die solche Gefühle haben, so gut wir können, zu beobachten und das, was wir beobachten, wahrheitsgemäss zu berichten.“ (James, 335) 

James ist überzeugt: Religiöse Erfahrungen werden wohl immer wieder zu Mythen, Dogmen und Glaubenssätzen verarbeitet. Diese haben gegenüber den ursprünglichen Erfahrungen jedoch einen nur sekundären Charakter. Daher sei es hoffnungslos, die Wahrheit solcher Vorstellungen auf dem Weg der reinen Vernunft demonstrieren zu wollen. Konzentriere man sich auf die Ursprungserfahrungen, könnten selbst nicht-religiöse Menschen die Realität religiöser Erlebnisse genauso respektieren wie blinde Menschen die Tatsachen der Optik.

Anhand unterschiedlichster Zeugnisse befasst sich James ausführlich mit Erfahrungen wie der religiösen Bekehrung, dem Erlebnis einer Wiedergeburt oder der Erlangung von Heilsgewissheit nach langen Krisen. Er führt die Lebensläufe von einflussreichen Heiligen und Vorbildern vor Augen, nicht zuletzt ihre inspirierende Kraft, die sie für viele Bewundernde entfalten.

Er leuchtet die religiöse Melancholie und die Angstzustände aus, die viele in ihrer religiösen Entwicklung erfahren, genauso wie er sich dem Erleben von Glückszuständen zuwendet, von denen religiöse Mystiker berichten.

Immer wieder lenkt er die Aufmerksamkeit auf konkrete Zeugnisse und Berichte von religiösen Menschen. Denn Religion ist zwar eine soziale und geschichtliche Tatsache. Aber zuletzt muss sie dem Individuum einleuchten, damit sie lebensbestimmende Kraft gewinnt. 

c) Religiöse Wahrheit? 

In all dem ist James sicher:

Religiöse Erfahrungen und Gefühle „sind für die, die sie haben, genauso überzeugend wie jede andere unmittelbare sinnliche Erfahrung“ (James, 104.)

Das kann man zutiefst unbefriedigend finden. Läuft eine solche Darstellung nicht darauf hinaus, jede mögliche Form von Religion zu rechtfertigen, wenn sie nur deutlich genug von Menschen erlebt wird?  

Nur: Was ist die Alternative? Am Ende eines langen empirischen Forscherlebens stellt James fest, „dass der Teil des Lebens, den der Rationalismus erfasst, relativ oberflächlich ist.“ (James, 105) Ja, Wissenschaft leistet Grossartiges. Aber viele menschliche Fragen, z.B. moralische, politische oder ästhetische, lassen sich nicht mit objektiver wissenschaftlicher Methodik lösen. So ist es auch in der Welt der Religionen.

Wie es für ethische oder politische Fragen nur ethische oder politische Beurteilungen geben kann, so ähnlich ist es auch im Bereich des Religiösen. 

Sind also unendlicher Pluralismus und rationale Willkür unvermeidlich? Nein, das dann doch nicht. Es sei zwar nicht möglich, sämtliche religiösen Fragen mit rationaler Strenge ein für alle Mal zu beantworten. Aber tatsächlich gibt es einen vernünftigen Massstab zur Beurteilung von Religionen, auch wenn der nicht so methodisch eindeutig funktioniert, wie die Dogmatiker jeglicher Couleur es gerne hätten. 

Das entscheidende Kriterium für die Wahrheit einer religiösen Haltung kann nicht in der Prüfung ihres Ursprungs bestehen, sondern in der Beobachtung, wie sie sich auf das Leben auswirkt.

„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, nicht an ihren Wurzeln“, (James, 53) formuliert James im Anschluss an Jesus Christus (Mt 7,16). James selbst verweist darauf, dass der Erweckungstheologe Jonathan Edwards diese Lösung schon Mitte des 18. Jahrhunderts ausführlich entfaltet und begründet hat.

Religiöse Erfahrungen sind vielfach vom Gefühl überwältigender Gewissheit begleitet. Aber natürlich gibt es auch das Phänomen, dass sich Menschen nach einer Zeit von ihren religiösen Haltungen distanzieren. Im Rückblick halten sie ihre früheren religiösen Erlebnisse und die damit verbundene Gewissheit für Illusion und Täuschung.

Warum? Weil sie an den Konsequenzen für ihr Leben und ihre Umwelt zunehmend Zweifel entwickeln. Weil sich ihre religiöse Haltung nicht im Umgang mit den Mitmenschen und der Wirklichkeit bewährt. Es versteht sich von selbst, dass ein solches Urteil nur aufgrund vielfältiger Erfahrung und intensiver Reflexion möglich ist. Genau dieser Anstrengung sollte sich niemand im Umgang mit dem Religiösen verweigern. 

3. Religion in Vielfalt 

Schon der individuelle Charakter religiöser Erfahrungen macht sie vielfältig. Darüber hinaus soll hier eine von James entwickelte Grundunterscheidung gewürdigt werden, die viel zu wenig bekannt ist und die ich persönlich in der Einschätzung religiöser Grundtypen sehr erhellend finde.  

a) Einmal und Zweimal Geborene  

James unterscheidet zwei Grundhaltungen: Die einmal Geborenen und die zweimal Geborenen. James übernimmt diese Unterscheidung von Francis W. Newman, dem Bruder von John Henry Newman, füllt sie aber eigenständig. Führen wir uns diese Unterscheidung durch folgende Merkmale vor Augen. 

– Selbst. Die einmal Geborenen verfügen über ein positives Selbstverhältnis. Düstere Stimmungen meiden sie instinktiv. Es ist ihnen auch fremd, sich allzu lange mit Schuldgefühlen und Reue zu quälen. Nicht bereuen, sondern künftig besser handeln, das ist ihre Lebenshaltung. Die zweimal Geborenen verfügen sehr viel weniger über ein natürliches Selbstbewusstsein. Sie erleben sich häufiger als zerrissen. Sie kennen tiefes Leiden an eigener Willensschwäche, an der Unfähigkeit, dauerhaft zu leben, wie sie es eigentlich möchten.  

– Welt. Für die zweimal Geborenen ist die Welt grundsätzlich nicht vertrauenswürdig. Die Welt ist voller Gefahren und Verführungen. Das Böse ist eine allgegenwärtige Realität, deren Bedrohung sie vielfach spüren. Für die einmal Geborenen ist die alltägliche Welt ein heimatlicher Ort. Es fällt ihnen leicht, anderen Menschen und der Welt insgesamt zu vertrauen. 

– Ziele. Für die einmal Geborenen ist diese Welt ein Ort befriedigender Tätigkeiten. Sie setzen sich ein für innerweltliche Ziele und Güter. Politische, kulturelle und soziale Tätigkeiten sind in ihrer religiösen Gesamtsicht des Lebens ein wesentlicher Aspekt des Glaubens. Umgekehrt steht für die zweimal Geborenen das Handeln in dieser Welt nicht im Zentrum ihrer religiösen Orientierung. Sie leben sehr viel stärker mit dem Bewusstsein, zwei Welten anzugehören. Die Ausrichtung auf ein Jenseits, das sehr viel bedeutender ist als die Angelegenheiten dieser Welt, bestimmt sie stark. Andere zu diesem Glauben zu führen, ist im Zweifelsfall wichtiger, als diese Welt zu verbessern.

– Erwartungen. Die zweimal Geborenen sind viel stärker zum Pessimismus geneigt. Sie sehen viele Zeichen des Niedergangs des gegenwärtigen Zeitalters. Sie sind skeptisch, was grundlegende Veränderungen der Welt betrifft. Sie misstrauen dem Zeitgeist grundsätzlich. Die einmal Geborenen sind auch im Blick auf die Entwicklung der Gesellschaft und der Menschheit insgesamt optimistisch. Sie glauben an die Möglichkeit, sich selbst zum Guten zu wenden und andere in diesem Sinne prägen zu können. 

Die Unterscheidung steht quer zu konfessionellen und letztlich auch religiösen Grenzen. So gäbe es die einmal Geborenen wohl häufiger im modernen Katholizismus als im Protestantismus. Vor allem an zwei Gruppen macht James das Profil dann deutlich: An liberalen und evangelikalen Protestanten. 

b) Liberale und Evangelikale 

An Beispielen wie Ralph Waldo Emerson und Theodore Parker zeigt James, was typisch für eine liberal-religiöse Haltung ist. Sie ist frei von Kampf und Krampf mit sich selbst und dem Leben. Diese Religion lebe eine „natürliche Art und Weise, sich unmittelbar an den Dingen zu erfreuen. (James, 119) 

Diese Haltung sieht James innerhalb des nordamerikanischen Christentums seiner Zeit auf dem Vormarsch.

„Wir haben gegenwärtig ganze Gemeinden, deren Prediger sich hingebungsvoll bemühen, unser Schuldbewusstsein nicht weiter zu vergrössern, vielmehr kleiner zu machen. Die ewigen Strafen ignorieren sie oder bestreiten sie sogar, sie betonen mehr die Würde als die Verdorbenheit des Menschen. Sie betrachten das ständige Besorgtsein des herkömmlichen Christen um sein Seelenheil als etwas Krankhaftes, das eher abzulehnen als zu bewundern ist“ (James, 122) 

Diese Haltung ruht in einer Zufriedenheit mit dem Endlichen, einer optimistischen Vorstellung vom Leben und einer Zuversicht in die Entwicklungsfähigkeit der Gesellschaft. Das Evangelium wird zunehmend auf die sozialen Belange der gegenwärtigen Zeit hin ausgelegt. Durch den „Fortschritt des sogenannten Liberalismus im Christentum während der letzten 50 Jahre“ (James, 122) ist der Glaube zunehmend an den diesseitigen Herausforderungen des Lebens orientiert. 

Auch der Idealtyp der zweimal Geborenen ist nicht identisch mit einer bestimmten religiösen Bewegung innerhalb des Christentums. So stellt James den russischen Schriftsteller Tolstoi als einen Vertreter einer solchen Geisteshaltung vor, der erst durch eine religiöse Lebenswende Frieden und Halt fand.  

Vorrangig aber erläutert James die Logik der zweimal Geborenen an Vertretern eines evangelikalen Christentums. Ein Musterbeispiel ist der Baptist John Bunyan, den man historisch als Vorläufer evangelikaler Frömmigkeit einordnen muss. Sein berühmtes Buch über das geistliche Leben als Pilgerreise zeigt mustergültig die Merkmale der Frömmigkeit zweimal Geborener. Das Erschrecken über das Böse in der Welt und das Mitleiden mit ihren Opfern ist für eine solche Haltung zentral. Religiöse Kraft gewinnt sie dort, wo die Betroffenen entdecken:

Ich selbst bin nicht besser als all die Menschen, deren Fehlverhalten ich beklage. Auch meine Lebenshaltung schadet anderen und mir selbst. Die Welt sollte anders sein, aber ich auch. Ich sollte ein ganz anderes Leben führen.

Oft durch schwere innere Kämpfe hindurch erfahren diese Menschen eine Lebenswende, ein Ende ihres früheren und den Neubeginn eines ganz neuen Lebens, in dem sie sich als von Gott begnadet und erneuert erleben. Oft erleben sie nun Frieden und Ruhe. Aber dieser innere Frieden ist nur möglich, solange sie sich in einem Gegensatz zu ihrem früheren Leben und zu weltlichen Verlockungen aller Art behaupten.

Aus einer wissenschaftlichen Perspektive ähneln solche Lebenswenden vielen Erfahrungen von Jugendlichen in ihrer Adoleszenzphase, im Übergang von Kindheit zu einem erwachsenen Ich. Auch die religiöse Bekehrung ist ein Phänomen solcher Selbstfindung. Entscheidend ist dabei jedoch, dass diese Menschen fortan nicht nur religiöse Gedanken und Gefühle haben wie die einmal Geborenen auch. Vielmehr sind diese nun ins absolute Zentrum ihres Bewusstseins und Lebens getreten. Das ganze Leben mit allen seinen Seiten ist nun bestimmt von den religiösen Antrieben und Zielen, die sich den zweimal Geborenen in ihrer Lebenswende erschlossen haben. Entsprechend treten viele andere Lebensbereiche in ihrer Bedeutung zurück.  

c) Ambivalenzen der Religion 

Die besondere Stärke von James Darstellungen ist es, eine Vielfalt an Erscheinungen zu Wort kommen zu lassen und möglichst fair und deskriptiv zu betrachten. Aber natürlich wäre es eine Illusion, so etwas wie eine völlige Wertfreiheit zu erwarten. Letztlich schwingen immer bestimmte Beurteilungen mit. Wie verhält es sich bei James im Umgang mit den beiden oben besprochenen Gruppen? 

Auf dem ersten Blick fast brutal eindeutig: Von Anfang an bezeichnet James diese beiden Typen als Religion des gesunden und Religion des kranken Geistes.  

Die einmal Geborenen sind insofern gesund, als sie mehr als alle anderen teilnehmen an den sozialen und kulturellen Bewegungen ihrer Zeit. Sie neigen nicht zum Separatismus, sie betreiben keine permanente Abwertung der Gesellschaft oder gar des Zeitgeistes. Sie sind positiv gestimmte und engagierte Mitglieder ihrer Welt. 

Die zweimal Geborenen dagegen zeichnen sich durch das Leiden an sich und der Welt aus. Sie sind durch grosse Empfindlichkeit für das Böse und das Leiden gezeichnet. Sie spüren nicht selten schwere Verstimmungen und innere Leiden an sich und der Welt.  

Für besonders eindrücklich erklärt James das Zeugnis eines Franzosen, der ihm erlaubt habe, seinen Bericht zu verwenden. Zeit seines Lebens wurde er durch schwere Angstattacken gepeinigt. Was immer er versucht habe, um sie zu überwinden, habe nie dauerhaft gefruchtet. Sein Leben lang wurde er von unbegreiflicher Existenzangst heimgesucht. Beständig war es ihm, als ob sich unter der Oberfläche des Lebens ein Abgrund auftue. Sein Leben sei bestimmt gewesen von Angst vor der Einsamkeit, Angst vor neuen Panikanfällen, was ihn mit einem tiefen Gefühl der Unsicherheit durch das Leben gehen liess. 

Dieses Grundgefühl der Angst sei es auch gewesen, die seinem Leben eine religiöse Wendung gegeben habe. Er schreibt:

„Ich meine, die Angst war so gross und überwältigend, dass ich vermutlich verrückt geworden wäre, wenn ich mich nicht an Schriftworte geklammert hätte wie „Der ewige Gott ist meine Zuflucht, „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid“, „Ich bin die Auferstehung und das Leben“.“ (James, 184) 

An dieser Stelle dreht James die vermeintlich eindeutige Bewertung der beiden Religionstypen um. „Wir können, scheint mir, nicht umhin festzustellen, dass die kränkelnde Geisteshaltung über eine grössere Erfahrungsbreite und einen grösseren Überblick verfügt.“ (James, 186)

Die vermeintlich gesunde Haltung lebt davon, Abgründiges und Böses in dieser Welt möglichst nicht zu nah an sich ranzulassen. Für Menschen, denen das Leben am Abgrund vertraut ist, die die Brüchigkeit aller irdischen Sicherungen brutal erfahren haben, sind die religiösen Angebote der liberalen Religion oft schwach und ohnmächtig.  

„Kein Prophet kann mit seiner Botschaft Allgemeingültigkeit beanspruchen, wenn er nicht etwas zu sagen hat, was in den Ohren von Opfern wie diesen nach etwas Wirklichem klingt. Aber die Befreiung muss ebenso stark auftreten wie die Beschwernis, wenn sie Wirkung zeigen soll; und das scheint ein Grund dafür zu sein, dass die gröberen Religionen, die auf Erweckung bauen, orgiastisch sind, mit Blut, Wundern und anderen übernatürlichen Zeichen operieren, wahrscheinlich niemals zu ersetzen sind. Es gibt einige Menschen, die sie nur allzu nötig brauchen.“ (James, 185) 

James` Bewertung der religiösen Grundhaltungen ist von einer bemerkenswerten Dialektik gekennzeichnet. Die vermeintlich gesunde Religion der einmal Geborenen ist sicher sehr sozialverträglich. Aber sie kann auch zur Oberflächlichkeit neigen. Die vermeintlich kranke Form der Frömmigkeit der zweimal Geborenen kann zur Absonderung und Weltfremdheit führen. Aber sie vermag auch sehr viel grössere Kraft zu entfalten für diejenigen, denen die Sonnenseite des Lebens weniger selbstverständlich ist. Faktisch gibt es auf beiden Seiten des religiösen Spektrums spezifische Chancen aber eben auch Gefahren. 

Religion ist ein ambivalentes Phänomen. Der Versuch, sie anhand ihrer Früchte, ihrer Konsequenzen zu bewerten, ist kein Kinderspiel.

In James Betonung der Ambivalenz des Religiösen liegt eine Chance. Auf beiden Seiten des Spektrums ist die Abgrenzung von den anderen ein tiefsitzender Reflex.

Für die zweimal Geborenen gelten die einmal Geborenen oft nicht als wirklich fromm. Nicht selten spricht man ihnen den Glauben ab. Das würden die einmal Geborenen umgekehrt nicht tun. Sie sprechen den Erweckten nicht den Glauben ab, wohl aber manchmal den Verstand.

Beispiele gelingenden Dialogs über diese Grenze hinweg dürften die Ausnahme sein. 

Wie kommt es, dass William James beide Seiten wertschätzend wie kritisch würdigen kann? Blickt man auf sein Leben, seine Herkunft und seine grossen wissenschaftlichen Erfolge, möchte man schnell meinen, dass James auf die Seite der Optimisten gehört. Nach seinem Tod zeigte sich: Das Beispiel der schrecklichen Panikattacken des Franzosen – war seinem eigenen Tagebuch entnommen. William James stand auch in dieser Frage in einem Grenzgebiet, in dem er mit mehr als einer Erfahrungswelt vertraut war. 

Nichts lag ihm ferner, als mit seiner Typologie Menschen in Schubladen zu sortieren.

James lässt keinen Zweifel daran, dass die „Extreme hier wie in den meisten gängigen Klassifizierungen ziemlich idealisierte Abstraktionen sind und die meisten konkreten Personen, die man trifft, mittlere Variationen und Mischformen darstellen.“ (James, 189)

Was bringt diese Typologie? James Antwort ist einfach: „Letztlich will ich Ihnen mit diesen Vorlesungen gerade die enormen Unterschiede vor Augen führen, die das spirituelle Leben bei unterschiedlichen Menschen hervorbringt.“ (James, 138)

Vor allem da, wo Menschen durch Gruppen- und Milieubildungen stark einseitig geprägt werden, können sie das Verständnis für ganz andere Formen religiöser Erfahrung verlieren. Es geht um etwas mehr Respekt vor den Menschen, deren Erfahrungen mir fremd sind. Etwas mehr Verständnis für Lebensläufe, die von meiner eigenen Geschichte deutlich abweichen.

Und vielleicht ist auch die Anregung wichtig:

Meine Erfahrungen mögen mir so eindeutig erscheinen wie überhaupt möglich. Aber sie sind nicht die einzig mögliche Gestalt religiöser Überzeugung. Andere gehen ganz andere Wege – was weiss ich, ob sie nicht gerade diese geführt werden? Und wer weiss: vielleicht ist es auch nicht ausgeschlossen, dass ein und dasselbe Individuum zu unterschiedlichen Zeiten in seinem Leben ganz verschiedene Formen der Religion benötigt. 

Literatur: 

William James: Die Vielfalt religiöser Erfahrungen. Eine Studie über die menschliche Natur. Übersetzt von Eilert Herms. Mit einem Vorwort von Peter Sloterdijk, Frankfurt am Main und Leipzig 1997.