Was ist Spiritualität?

Über christliche und freie Varianten einer grossen Sehnsucht | Von Thorsten Dietz

Das Wort Spiritualität ist in aller Munde. Doch wie so oft lässt sich bei solchen Worten mit der Zeit immer weniger sagen, was sie eigentlich bedeuten. In diesem Text möchte ich eine kleine Schneise durch die Vielfalt der Verständnisse von Spiritualität schlagen.

Religiosität oder Spiritualität?

Denn im Sprachgebrauch lässt sich zumindest eine Unterscheidung immer wieder beobachten: Für manche ist Spiritualität ein wichtiger Bestandteil ihres Glaubens. Spiritualität wird als eine Art praktizierte Religion verstanden. Sie ist dabei durchgehend geprägt von den Inhalten und Überzeugungen der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Für andere ist Spiritualität ein Gegenbegriff zu Religion. Viele Menschen verstehen sich heute als spirituell – und nicht als religiös.

Die doppelte Herkunft des Begriffs Spiritualität

Diese Unterscheidung kann man bis weit in die Begriffsgeschichte zurückverfolgen. In der Neuzeit können wir (vergröbernd) von einer doppelten Herkunft des Spiritualitätsbegriffs reden (vgl. Peng-Keller 2010, 9-12). Auf der einen Seite kann man schon seit altkirchlicher Zeit Wortbildungen im Sinne eines geistlichen Lebens beobachten, in Anlehnung an paulinische Ausführungen zum Leben im Geist. Das Wort «spiritualité» taucht im französischsprachigen Raum seit dem 17. Jahrhundert auf. Dort steht es im Kontext katholischer Ordenskultur für eine intensive christliche Gestaltung des Lebens aus dem Glauben heraus.

Auf der anderen Seite lässt sich in der angelsächsischen Sprachwelt im 19. Jahrhundert die Entstehung eines anderen Gebrauchs des Wortes beobachten, mit deutlicher Bedeutungsverschiebung. «Spirituality» bzw. Spiritualität wird unterschieden von Religion bzw. Religiosität.

Wo mit Religion die historisch festgelegte, oft sozial strikt geordnete Praxis des eigenen Glaubens gemeint sei, wird Spiritualität als etwas allgemein Menschliches verstanden, als eine universale Erfahrung, in der Menschen inneres Wachstum erleben.

Wir werden später sehen, dass beide Konzepte weniger leicht zu trennen sind, als man es teilweise tut (vgl. Peng-Keller 2014). Aber zunächst einmal folgen wir dieser Spur. Ich möchte im Folgenden christliche Spiritualität und freie Spiritualität idealtypisch unterscheiden und einige Aspekte benennen, die jeweils für sie typisch sind.

1. Christliche Spiritualität

Spiritualität kommt von Spiritus, lateinisch Geist, im Sinne des Heiligen Geistes des christlichen Glaubens. In der Berufung auf den Geist Gottes geht es um eine Gestaltung des Lebens im Glauben, um ein gestaltet Werden durch den Heiligen Geist. Mit der Spiritualität ist es sodann wie mit allem, was christlich ist. Sie existiert in sehr vielen Varianten, in konfessionellen Formen (katholisch, lutherisch, reformiert, orthodox, pentekostal etc.), die es ihrerseits nur in einem höchst nuancenreichen Spektrum von Ausprägungen gibt, von traditionell bis progressiv (vgl. Dahlgrün 2018 und Zimmerling 2017-2020). Gibt es so etwas wie gemeinsame Grundzüge? Einen solchen Überblick möchte ich mit Hilfe von vier Grundmerkmalen geben.  

a) Verbundenheit

Der Religionspsychologe Anton Bucher beschreibt Spiritualität insgesamt als Erfahrung umfassender Verbundenheit (Bucher 2007). In jeder Religion geht es um die Gründung in einer bestimmten Geschichte. Auch die christliche Religion ist eine Rückanbindung an eine bestimmte Auffassung von Gott und der Welt, die man oft in einem grossen Narrativ von Schöpfung, Entfremdung, Versöhnung und Vollendung zusammenfasst. Christliche Spiritualität ist stets auf Gott, auf den dreieinig verstandenen Gott bezogen (vgl. Dahlgrün 2018,3). Ihr Ziel ist die Verinnerlichung dessen, wovon man ergriffen ist und was man als wahr erachtet, durch Lesen der Bibel oder Hören von Predigten, durch eine Praxis der Verbundenheit mit Gott, z.B. im Gebet oder Meditation und Kontemplation.

Diese vertikale Verbundenheit mit Gott ist oft eingebettet in eine horizontale Achse, in die Verbindung mit der eigenen Glaubensgemeinschaft, die in regelmässigen Gottesdiensten, grossen Events oder unterschiedlichsten Kleingruppen zum Ausdruck kommt.

Zur Stärkung dieser Verbundenheit wird der Tag oder die Woche durchzogen von Phasen der geistlichen Besinnung, Zeiten des Gebets, der Lektüre, der religiösen Musik oder Momenten der Stille. Um sich des grossen Narrativs des eigenen Glaubens wieder und wieder zu vergewissern, ist auch das Jahr christlich geordnet. Im sogenannten Kirchenjahr erinnern Zeiten des Feierns und der Besinnung an die zentralen Aspekte des Glaubens, die man sich in vielfältigen Formen aneignet. 

Selbstverständlich gibt es viele unterschiedliche Formen persönlicher Spiritualität. Aber immer ist dabei vorausgesetzt, dass diese Praxis in einem sozialen Zusammenhang stattfindet, der durch einen gemeinsamen Liederschatz, durch allen vertraute Gebete zu Gott (wie dem Unservater) und durch Zeiten der Andacht an Orten, die von der eigenen Glaubensgemeinschaft bereitgestellt werden, geschaffen wird. Alle diese Ausprägungen tragen zu einer Zentrierung des Lebens bei, zu einer Ausrichtung auf das, was man glaubt und auf den, mit dem man verbunden sein möchte.

b) Zielorientierung

Christliche Spiritualität ist zielorientiert. Auch das wird deutlich durch den Begriff des «Spiritus», des göttlichen Geistes, der das christliche Leben ausrichtet und verwandelt.

Wenn der Geist Gottes bzw. Christi in den Gläubigen wohnt (Röm 8,8-9), lässt er diese im Geist wandeln, d.h. aus einer tiefen Verbundenheit mit Gott auch mit ihm leben.

Konkret führt dies zu einem Leben in der Heiligung (1Thess 4,3), zu einem Prozess, Christus ähnlich zu werden (Roman 8,29; 1Kor 11,1) und zunehmend geprägt zu werden von Haltungen, die Gott bzw. Christus zugeschrieben werden; den sogenannten Früchten des Geistes wie Liebe, Friede, Freude, Geduld etc. (Gal 5,22f.). 

In den spirituellen Traditionen der Kirchen hat man unterschiedlichste Varianten entwickelt, in denen die Ziel-Ausrichtung der Gottesbeziehung in Vorstellungen eines geistlichen Weges übertragen werden. Schon im Neuen Testament werden Anfänger, fortgeschrittene und reife Gläubige unterschieden (1Kor 3,2; 1Joh 2,14). Unterteilungen zwischen Umkehr (Busse) und Vertiefung des Glaubens sind sehr weit verbreitet (Hebr 6,1ff).

Solche Karten eines geistlichen Weg von der Entfremdung von Gott bis zur innigen Gemeinschaft bzw. Einheit mit Gott sind für viele Menschen eine grosse Hilfe. Sie geben dem eigenen Leben eine klare Ausrichtung. Inmitten vieler Widerfahrnisse und Schicksalsschläge finden Menschen einen Fokus. Sie helfen auch, krisenhafte Zeiten einordnen zu können.

Glaube hat nicht immer die gleiche Betriebstemperatur. Er kennt Wüstenzeiten, Wachstumsschmerzen, Phasen der inneren Leere, Nachterfahrungen der Sinne und des Geistes (Johannes vom Kreuz) und Anfechtungen (Martin Luther).

Je nach Spiritualitätstyp gibt es vielfältige Hilfestellungen, das eigene Erleben so deuten zu können, dass es innerhalb einer Wegelogik des Glaubens seinen Platz findet.

c) Rituale

Spiritualität hat immer mit Ritualen zu tun. Viele dieser Rituale beziehen sich auf das, was man traditionell als Sakramente oder Heilsmittel bezeichnet, wie Taufe und Abendmahl, die in fast allen Kirchen anerkannt sind. Alle Formen klassischer Spiritualität wissen, dass Gott selbst stets unsichtbar und unverfügbar ist. Gemeinschaft mit Gott ist auf Vermittlung im Fasslichen angewiesen. 

Gott lässt sich nicht greifen – und zugleich macht er sich fassbar. Diese Überzeugung zieht sich in vielen Varianten durch die Spiritualitätsgeschichte. 

In der christlichen Spiritualitätsgeschichte wurde eine Vielzahl von Übungen (Harms 2011) entwickelt, mit denen man seinen Glauben zu vertiefen sucht. Aber es existiert oft auch eine klare Hierarchie der Wege, auf denen Gott vor allem gefunden werden will. In den meisten Formen protestantischer Spiritualität steht das Wort Gottes im Zentrum. In der Reformation dachte man in erster Linie an die Predigt des Evangeliums von Jesus Christus. Dazu gehört auch der erbauungsorientierte Umgang mit der Bibel, ebenso mit Katechismen, geistlichen Gesangs-, Gebets- und Andachtsbüchen.

Das Wort Gottes ist in allen Formen des Christentums wesentlich. Es können aber auch andere Medien und Rituale im Zentrum stehen: die Sakramente im katholischen Raum, ostkirchliche Ikonen, oder auch Formen des ekstatischen Betens wie in der Pfingstbewegung (Sprachengebet, früher „Zungenrede“). Nur wer Gott beim Wort nimmt (oder ihn im Sakrament empfängt etc.), kann ihn überall finden. In der Arbeit wie im Schweigen.

Die besondere Kraft dieser Ausrichtung an Ritualen kann auch heute einleuchten: sie geben Halt. Sie schaffen Routinen, die in einer oft unübersichtlichen Welt die innere Ordnung stärken. 

d) Geistesgegenwart

Spiritualität ist mehr als nur ein bestimmtes Tun. Sie kann noch grundlegender ansetzen. Schon wie wir die Dinge wahrnehmen, ist eine spirituelle Frage. Das meine ich an dieser Stelle mit dem doppeldeutigen Wort Geistesgegenwart. Christlich könnte man so ein Leben im Geist bezeichnen (Röm 8,8). Aber auch die Alltagsbedeutung ist in diesem Fall hilfreich.

Geistesgegenwärtig nennt man Menschen, die auf eine neue Situation schnell und adäquat reagieren können. Sie sehen die veränderte Lage und schätzen sie richtig ein. Genau darum geht es in einem Leben im Geist.

Das Neue Testament spricht von einer Unterscheidung der Geister, d.h. der Prüfung, wie eine konkrete Herausforderung zu bewerten und wie darin angemessen zu reden oder zu handeln wäre. Alles soll geistlich beurteilt werden (1Kor 2,15). Schon in den grundlegenden Praktiken des christlichen Glaubens wird das sichtbar: Zum Abendmahl gehört nicht nur das Fürwahrhalten, dass sich Jesus Christus in Brot und Wein schenkt. Zur christlichen Spiritualität gehört die Kunst einer grundlegend erneuerten Wahrnehmung. Geistliches Leben ist ein anderer Blick auf alles. Auf sich selbst als Kind Gottes. Auf die Mitgläubigen als Geschwister im Herrn. In den Notleidenden gilt es, den Nächsten zu sehen, ja mehr: Christus in ihnen zu erkennen:

«Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.» (Mt 25,40) 

Insbesondere in fortgeschrittenen Phasen des geistlichen Weges wird diese Dimension der Wahrnehmung immer wichtiger. Religion ist nicht mehr nur eine besondere Sphäre des eigenen Lebens neben anderen; und noch weniger die Dimension, die auf Kosten aller anderen Lebenssphären möglichst weit ausgedehnt werden müsste. Es geht um einen Gottesdienst im Alltag der Welt (Röm 12,1-2), in dem alles Tun und Lassen geistlich ist. Im täglichen Beruf einen Dienst am Reich Gottes sehen zu können, das war das Ziel reformatorischer Frömmigkeit.

Alles wahrzunehmen mit einem Vorzeichen der Liebe, auch alles Herausfordernde im Licht der Erlösung anzunehmen und zu gestalten, in allem, was geschieht, immer schon mit der Wirksamkeit Gottes zu rechnen: Eine solche Haltung ist vielfach das Ziel reifer Spiritualität.

2. Freie Spiritualität

Neben einer spezifisch christlichen Spiritualität gibt es heute auch das, was ich hier als freie Spiritualität bezeichnen möchte. Neben der Begriffsgeschichte können wir dabei an einen verbreiteten Sprachgebrauch anknüpfen. Seit einigen Jahrzehnten bezeichnen sich immer mehr Menschen als spirituell, aber nicht religiös (vgl. Utsch/Klein 2011; Stolz u.a. 2022). Innerhalb der christlichen Spiritualität macht diese Differenz keinen Sinn, denn offensichtlich geht es dort um eine Lebensgestaltung im Sinne des christlichen Glaubens. Daher gibt es auch nach wie vor viele Menschen, die sich als religiös und spirituell bezeichnen. Was aber meinen diejenigen mit Spiritualität, für die diese beiden Begriffe nicht nur einen Unterschied, sondern oft auch einen Gegensatz markieren?

a) Freiheit

Spiritualität gilt als zutiefst menschlich. Und sie ist vielen darum wichtig, weil Lebensverhältnisse sich oft als unmenschlich erweisen.

Spirituelle Menschen wehren sich dagegen, reduziert zu werden auf das, was sie leisten können, auf das Äusserliche, das Messbare und Berechenbare. Gegenüber einer solchen Realität ist für sie Spiritualität ein Gegenbegriff. Spiritualität steht für Tiefe gegenüber Oberflächlichkeit.

In der Spiritualität geht es um das wahrhaft Menschliche, um das volle Potenzial menschlicher Persönlichkeit. Es geht um innere Freiheit, und das in einem umfassenderen Sinne als einer blossen Fähigkeit zur freien Entscheidung (vgl. Marti 2019). Weil es nicht zuletzt um die Verwirklichung umfassender Freiheit geht, sieht man auch die Religion als etwas eher Einengendes.

Im Vergleich mit der Religion hält man Spiritualität für weniger doktrinär; weniger institutionell, weniger festgeschrieben und reglementiert. Dafür gilt sie als ganzheitlicher, alltagsnäher, vielfältiger und offener.

b) Selbsttranszendenz

Es wäre ein Missverständnis, das Freiheitspathos moderner Spiritualität mit Selbstbezüglichkeit oder gar Egoismus zu verwechseln. Spiritualität ist keine Sache des Wissens von bestimmten Inhalten, sondern der persönlichen Erfahrung. Spirituelle Erfahrungen sollen gerade das Gefüge des alltäglichen Lebens sprengen. Genau das ist aus Sicht der freien Spiritualität das Beengende an den Religionen: Dass sie nicht offen sind für das Neue, Fremde, sondern nach einer immer tieferen Beheimatung im Vertrauten zu streben scheint. Religion wirkt aus dieser Sicht wie ein Filter. Alle möglichen Erfahrungen dieser Welt werden eingezeichnet in die übergreifende Weltanschauung der eigenen religiösen Wahrheit. Darum müssen diese auch immer wieder wiederholt und vertieft werden.

Das macht klassisch religiöse Formate aus Sicht einer freien Spiritualität so vorhersehbar und langweilig. Religiöse Übungen wirken wie dauernde Wiederholungen in Endlosschleife.

Aus einer solchen Sicht von Spiritualität erscheinen die Religionen als menschliche Verengungen, als einengend und autoritär. Für eine solche Haltung kann alles zu einer spirituellen Erfahrung werden: Singen und Schweigen, die Erfahrung der Entgrenzung in der Sexualität wie im Sport, der Einklang mit der Natur wie die tiefe Begegnung mit anderen Menschen. Und alles kann zum Medium werden, Edelsteine und Talismane, grüner Tee oder die Kunst, ein Motorrad zu warten.

Darum ist auch nichts und alles heilig. Oder anders: heilig ist nur der Mensch, dem alles zu einer Begegnung mit der Tiefe des Daseins werden kann.

c) Individualität

Zum modernen Spiritualitätskonzept gehört ihre Individualität und die damit selbstverständlich verbundene Pluralisierung. Mit seiner Studie «Die Vielfalt religiöser Erfahrungen» (1902) hat William James einen Klassiker der Religionspsychologie geschrieben, in dem sich moderne Spiritualität gut verstanden fühlen kann. 

Zum persönlichen Weg gehört die Offenheit für alle möglichen Wege, sofern sie die eigenen Such- und Sehnsuchtsbewegungen anregen. Im Westen dürfte auch die Begegnung mit anderen Religionen wesentlich dazu beigetragen haben, nicht mehr nur in der eigenen Herkunftsreligion nach Resonanz und Erfüllung zu streben.

Japanische Zen-Meditation, indisches Yoga, die Weisheit der Sufis, die Initiationsrituale indigener Völker, so viele Erfahrungswege der Menschheit können auch heute noch etwas Tiefes in uns zum Klingen bringen.

Spiritueller Individualismus ist durchaus gemeinschaftsoffen. Tiefe Begegnungen mit anderen Menschen können ausdrücklich gewürdigt werden als Bereicherung, ja als Ziel spiritueller Offenheit. Dabei handelt es sich jedoch stets um Wahl- und nie um Zwangsgemeinschaften, etwa aufgrund der Zugehörigkeit zur selben Konfession.

Nietzsche brachte eine solche Haltung schon im 19. Jahrhundert auf den Punkt. «Das ist nun mein Weg – wo ist der eure? so antwortete ich denen, welche mich «nach dem Wege» fragten. Den Weg nämlich – den gibt es nicht!» (Nietzsche 1988, 245)

d) Horizont des guten Lebens

Freie Spiritualität kennt keine absolute Zielorientierung. Sie weiss um kein göttliches Mass, dem man genügen muss. Das bedeutet keineswegs, dass diese Spiritualität ziellos oder gar beliebig ist. Tatsächlich bestehen sehr klare Vorstellungen, was gute Spiritualität von schlechter unterscheidet. Gute Spiritualität ist menschenfreundlich und lebensdienlich. Wo man in klassisch-christlicher Spiritualität oft grossen Wert darauf legt, dass es nicht um einen bestimmten Nutzen gehen darf, ist das für die freie Spiritualität anders. Eine radikale Ausrichtung auf die vertikale Achse, auf die Ansprüche einer göttlichen Transzendenz, egal, was das für Konsequenzen für das alltägliche Leben hat, ist ihr befremdlich.

Was soll man mit einer Spiritualität anfangen, die das menschliche Leben nicht besser macht, im schlimmsten Fall sogar schadet?

Freie Spiritualität soll nützlich sein, indem sie der Entfaltung und dem Gelingen des menschlichen Lebens dient. Spiritualität wird als Sinnressource verstanden, als innere Kraftquelle, die die geistige und auch körperliche Gesundheit fördert.

Ein typisches Beispiel einer solchen nützlichen Spiritualität ist die Achtsamkeitsmeditation nach Jon Kabat-Zinn (*1944).

Schon als Student lernte der spätere Medizinprofessor Kabat-Zinn Formen buddhistischer Meditation kernen und integrierte sie in sein persönliches Leben. Überzeugt von der heilsamen Kraft dieser Übungen, suchte Kabat-Zinn nach Wegen, ihre heilsame Wirkung auch im medizinischen Kontext zu nutzen. Im Laufe der Zeit entwickelte er eine Einführung in Achtsamkeitsübungen, die von Patienten in einigen Wochen gelernt werden können.

Inzwischen haben sehr viele Studien nachgewiesen, dass Kabat-Zinns Programm der Mindfulness-Based Stress-Reduction (MBSR) in vielen gesundheitlichen Herausforderungen (von Angststörungen und Depressionen bis zum Umgang mit chronischen Schmerzen oder Immunerkrankungen) heilsam ist. Für freie Spiritualität ist das typisch: nur was dem guten Leben dient, kann als gute Spiritualität gelten; egal, welche religiösen Hintergründe damit geschichtlich einmal verbunden gewesen sein mögen.

3. Umgang mit der Vielfalt spiritueller Erfahrungen

a) Unüberbrückbare Gegensätze?

Unbestritten ist die heutige Religionslandschaft im Wandel. Eine der grössten Verschiebungen der letzten Jahrzehnte besteht darin, dass die Prägung durch kirchliche Religion immer weiter zurückgeht. Gemeint ist dabei stets Religion im klassischen Sinne: Menschen, die bestimmte religiöse Überzeugungen teilen, an traditionellen Ritualen und Zeremonien teilnehmen und sich als Mitglieder zu einer konkreten Institution bekennen. Es hilft an dieser Stelle auch nicht, diesen Trend als bloss europäische Entwicklung abzutun, der doch grosses Wachstum der Religionen im globalen Süden gegenübersteht. Dieses Wachstum ist nicht zuletzt auch Teil allgemeiner demographischer Entwicklungen und geschieht in einem völlig anderen kulturellen Horizont, als wir ihn in westlichen Ländern haben, die alle von einer jahrhundertelangen Dominanz der christlichen Kirchen herkommen. Parallel zum Rückgang der religiösen Prägung gab es in den letzten Jahrzehnten eine starke Zunahme von Menschen, die sich als spirituell und nicht als religiös verstehen.

Ist die freie Spiritualität die Zukunft dessen, was wir heute als klassische religiöse Praxis kennen?

Stehen wir hier vor unüberbrückbaren Gegensätzen? Hier die Prägung durch die Tradition, dort die eigene Erfahrung, hier die Bindung an eine bestimmte Religion, dort ungebundene Freiheit, hier die feste Gemeinschaft der Gläubigen, dort das freie Netzwerk der offenen und suchenden Menschen, hier die religiösen Institutionen, dort die Individuen und ihre punktuellen Vergemeinschaftungen.

Nicht selten entstehen regelrechte Feindbilder. Hier die Verachtung von Esoterik, dort der Widerwille gegen lebensferne Kirchendogmen, hier die Warnung vor charismatischen Gurus, dort der Argwohn gegenüber elitärer Kirchenhierarchie.

Aus spiritueller Perspektive wird die kirchliche Frömmigkeit als eng, langweilig oder alltagsfern kritisiert. Kirchliche Religion gilt oft insgesamt als autoritär, individualitätsfeindlich und rückwärtsgewandt. Aus Sicht konservativer oder fundamentalistischer Religion wird oft schon das Wort Spiritualität stark abgelehnt. Spiritualität wird verworfen als esoterisch, als Zeichen der Endzeit oder gar auf Wirken dämonischer Mächte zurückgeführt.

Lange Zeit konnten Kirchen die Strategie verfolgen, alles Religiöse ausserhalb der Kirchen als unseriös, schwärmerisch, vielleicht sogar gefährlich zu bezeichnen. Aber diesen Einfluss haben Kirchen nicht mehr, zu sehr stehen sie selbst unter kritischer Beobachtung. Bleibt also der Gegensatz bestehen, nur unter zunehmender Verlagerung der Kräfte?

b) Ein religiös-spirituelles Spektrum

Im letzten Absatz wurde mit vielen Gegenüberstellungen gearbeitet, die teilweise noch heute verbreitet sind. Es ist Zeit für die Feststellung: Viele dieser vermeintlich eindeutigen Gegensätze sind schief. So „dogmatisch“ und starr, wie viele die Kirche sehen, ist sie selten oder nie. Im Gegenteil: Viele neue spirituelle Angebote sind inzwischen auch in Kirchen heimisch.

Vor allem ist die Gegenüberstellung von freier Spiritualität und traditioneller Religiosität alles andere als neu (vgl. vor allem Peng-Keller 2014). Solche Gegensatzbildungen ziehen sich vielmehr durch die Religionsgeschichte insgesamt. Schon im Alten Testament finden wir eine Kritik der Propheten an herkömmlicher Frömmigkeit. «Ich hasse, ich verabscheue eure Feste, und eure Feiern kann ich nicht riechen! (…) Weg von mir mit dem Lärm deiner Lieder! Und das Spiel deiner Harfen – ich höre es mir nicht an!» lautet die Gottesrede beim Propheten Amos (Am 5,21.23). Dass traditionelle Frömmigkeit wertlos wird, wo sie nicht zur Zuwendung zu den Bedürfnissen der Mitmenschen führt, ist uralte biblische Einsicht.

Die Propheten Israels sind sich sicher: Letztlich geht es Gott nicht um solche äusseren Frömmigkeitsformen, und seien sie noch so sehr gegründet in der Tempelpraxis und im Wort Gottes wie der Opferkult (Vgl. auch Jes 1,10-20).

Auch in den Psalmen gilt die innere Haltung als wichtiger wie der äussere Vollzug traditioneller Frömmigkeit: «Bringe Gott Dank als Opfer dar und erfülle dem Höchsten deine Gelübde.» (Ps 50,14)

Mehrfach beruft sich Jesus auf diese Frömmigkeitskritik der Propheten: «Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer» (Mt 9,7; 12,7). Damals verbreitete Gebetspraxis verurteilt Jesus als Geplapper und Heuchelei (Mt 6,5.7). Ähnlich kritisiert Paulus viele damals selbstverständliche Formen spiritueller Praxis des Fastens und Feierns (Röm 14; Kol 2,16.21-23).

Auch die Reformation des 16. Jahrhunderts war auf dem Feld der spirituellen Praxis ein disruptiver Bruch. Insbesondere Zwinglis Reformation brachte eine umfassende Kritik an vielen traditionellen Formen kirchlicher Frömmigkeit mit sich, von der Verehrung Marias und der Heiligen über die Fastenpraxis bis hin zu vielen bildhaften und künstlerischen Gestaltungen des Glaubens, die nicht wenigen Halt und Lebensausrichtung vermittelt hatten.

Schliesslich haben sich im 18. Jahrhundert Pietismus und Aufklärung ihrerseits abgehoben von der Wort-Gottes-Frömmigkeit in der Epoche des konfessionellen Zeitalters und Raum geschaffen für mehr individuelle, gefühlsbetonte Zugänge zum Glauben. Und es geht immer weiter: Moderne Lobpreismusik und andere neue Musikstile setzten im 20. Jahrhundert vielerorts einer Jahrhunderte alten Choralkultur des geistlichen Liedguts ein Ende.

Es ist ein urchristliches und nicht zuletzt auch urreformiertes Motiv, dass traditionelle Formen der Spiritualität der Kritik verfallen. Frömmigkeitsformen können ihre Kraft verlieren, geistliche Übungen ausser Gebrauch kommen. Wandel gehört zu den Konstanten der Spiritualitätsgeschichte.

Für die reformierte Tradition ist die Erinnerung an die Bilderstürme des 16. Jahrhunderts hilfreich. In der Frühphase der Reformation kam es immer wieder zur Zerstörung geistlicher Kunstwerke. Aus Aversion gegen christliche Frömmigkeit? Nein, sondern gerade aus einer starken christlichen Frömmigkeit heraus, die den Stellenwert von Bildern, Statuen und Altären aus vertiefter Ehrfurcht vor Gott in Frage stellte. Das Bewusstsein der Heiligkeit Gottes empörte sich gegen alles, was wie eine Verehrung oder Anbetung von Bildern aussehen konnte.

Der Gegensatz von kirchlicher und freier Spiritualität insgesamt ist keineswegs neu. In allen Jahrhunderten bildeten sich neben und ausserhalb der offiziellen kirchlichen Frömmigkeit neue und freie Formen der Spiritualität.

Am Beginn der Wortgeschichte von «spiritualité» wurde dieses Wort kritisch verwandt gegen neue, mystische Elemente der Frömmigkeit! Kirchliche und freie Spiritualität sind in der Geschichte des Christentums schon sehr lange vielfältig aufeinander bezogen, haben einander inspiriert und kritisiert. Neu ist heute die staatlich abgesicherte Freiheit zu spirituellen Entwicklungen aller Art. Gegen spirituellen Wildwuchs gibt es keine Religionspolizei mehr.

Gerade traditionsbewusste Gläubige sollten daher zurückhaltend sein, neue Formen der Spiritualität stets sofort als Gefahr oder Abweichung zu verurteilen. Denn solche Neubildungen gehören immer schon zur Tradition der Kirchen.

In der reformierten Geschichte gab es immer wieder Umbrüche und Erneuerungsbewegungen. So kam es erst in den den letzten Jahrzehnten im Protestantismus zu einer starken Integration von Frömmigkeitsformen, die einst als typisch katholisch galten: Pilgern, Exerzitien, Kontemplation – sie sind heute so reformiert wie das Beten der Psalmen oder auch das Singen von Taizé-Liedern. Wir haben es heute nicht mit zwei Lagern zu tun, sondern mit einem breitem religiös-spirituellen Spektrum.

c) Grenzabschreitungen

Sollten wir also die Unterscheidung von christlicher und freier Spiritualität für unnötig erklären? Nein, diese Unterscheidung von Religion und Spiritualität ist heute eingeführt und vielen Menschen wichtig.

Es wäre vermessen, alle heute praktizierten Formen von Spiritualität einfach als christlich oder kirchlich zu vereinnahmen. Die Abwendung vieler Menschen von der Kirche und ihren Angeboten sollte diese zunächst einmal respektieren und reflektieren.

Sehr viele Menschen haben abgeschlossen mit den Kirchen. Ihre Geschichte strotzt ihnen zu sehr vor Gewalt und Intoleranz, ihre Strukturen ermöglichen zu viel Missbrauch und Ausgrenzung.

Daher sollten Christinnen und Christen zurückhaltend sein, alles, was ihnen neu oder fremd erscheint, erst einmal als unchristlich zu verdächtigen. Vielmehr dürfte der nähere Blick auf viele Angebote freier Spiritualität zeigen, wieviel Erbe der christlichen Welt bzw. zumindest der grossen Religionen darin verarbeitet ist. Und immer wieder hat sich manches Neue mit der Zeit einbinden lassen in die für christliche Spiritualität typische Zentrierung aller Formen auf das ihr eigene Gottesverhältnis.

Wir brauchen mehr Offenheit auf beiden Seiten, und mehr Neugier auf das, was im Grenzbereich passiert. Viele heutige Entwicklungen sind nicht einfach aufzuteilen in traditionelle oder neue Formen der Spiritualität. Wir erleben Umbrüche in Kirche und Gesellschaft, religiöse und spirituelle Suchbewegungen auf unterschiedlichen Seiten.

In unserem Dossier Spirituell leben und beten soll es um solche Grenzwanderungen gehen. Diese Reihe ist stärker der Neugier verpflichtet bzw. möchte sie wecken:

Wie sieht sie aus, die Spiritualität derer, die mit Religion und Kirche fertig sind? Welche Grundzüge lassen sich heute in spirituellen Angeboten im Umfeld der Kirchen entdecken? Stimmt die Vermutung noch, dass die Kirchen ausser Stande sind, die individuellen Wege spirituell offener Menschen zu respektieren? Welche Entwicklungen brechen im kirchlichen Christentum auf? Haben sie vielleicht auch denen etwas zu sagen, die glauben, Kirche und Christentum hinter sich zu haben?

Vielleicht warten in diesem Grenzgebiet mehr spannende Entdeckungen und Erfahrungen auf uns, als wir ahnen.

Literaturverzeichnis

Anton A. Bucher (2007): Psychologie der Spiritualität. Ein Handbuch, Weinheim: Beltz.

Silke Harms (2011): Glauben üben. Grundlinien einer evangelischen Theologie der geistlichen Übung und ihre praktische Entfaltung am Beispiel der «Exerzitien im Alltag», Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Corinna Dahlgrün (2018): Christliche Spiritualität. Formen und Traditionen der Suche nach Gott, Berlin/Boston: De Gruyter.

William James (2014): Die Vielfalt religiöser Erfahrungen. Eine Studie über die menschliche Natur, Frankfurt: Suhrkamp Verlag.

Lorenz Marti (2019): Türen auf. Spiritualität für freie Geister. Freiburg: Herder Verlag.

Friedrich Nietzsche (1988): Also sprach Zarathustra. KSA 4. Berlin/New York: De Gruyter.

Simon Peng-Keller (2010): Einführung in die Theologie der Spiritualität, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Simon Peng-Keller (2014): Zur Herkunft des Spiritualitätsbegriffs Begriffs- und spiritualitätsgeschichtliche Erkundungen mit Blick auf das Selbstverständnis von Spiritual Care. Spiritual Care 3 (2014/1), 36-47.

Jörg Stolz u.a. (Hg.) (2022) Religionstrends in der Schweiz Religion, Spiritualität und Säkularität im gesellschaftlichen Wandel, Wiesbaden: Springer VS.

Michael Utsch / Konstantin Klein (2011): Religion, Religiosität, Spiritualität. Bestimmungsversuche für komplexe Begriffe, in: Klein, Constantin/Berth, Hendrik/Balck, Friedrich (Hg.): Gesundheit – Religion – Spiritualität. Konzepte, Befunde und Erklärungsansätze, Weinheim: Beltz.

Peter Zimmerling (2003): Evangelische Spiritualität, Wurzeln und Zugänge, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Peter Zimmerling (2017-2020): Handbuch Evangelische Spiritualität. Band 1: Geschichte. Band 2: Theologie. Band 3: Praxis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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