Im Jahr 2018 bezeichnete die New York Times Jordan Peterson als den einflussreichsten öffentlichen Intellektuellen der gegenwärtigen westlichen Welt. Das ist recht erstaunlich für einen Mann, von dem die meisten Intellektuellen des Westens noch nie ein Buch in der Hand hatten. Warum hat ein in der wissenschaftlichen Welt kaum bekannter kanadischer Psychologieprofessor in den sozialen Medien eine solche Reichweite?
Der unwahrscheinliche Superstar
Der Kanadier Jordan Peterson hat sich auf YouTube und in den sozialen Medien eine solche Anzahl von begeisterten Followern aufgebaut, dass er tatsächlich die öffentliche Reichweite der allermeisten klassischen Intellektuellen weit übertrifft. Wie ist ihm das gelungen?
Peterson hat schon früh angefangen, Vorlesungen und Vorträge zu seinem psychologischen Fachgebiet öffentlich zu stellen. Ihm gelang es in seinen Veranstaltungen, Inhalte höchst unterhaltsam zu präsentieren. Sein Auftreten ist manchmal humorvoll, manchmal pathetisch, stets so, dass er seinen Zuhörenden das Gefühl vermittelt, sie und ihre Lebensfragen ernst zu nehmen.
Besonders hohe Reichweite erzielten seine Vorträge über die Texte des biblischen Buches Genesis. Seine Auslegungen des 1. Buches Moses dauern nicht selten über zwei Stunden. Keine grossartigen Präsentationen, keine Interaktionen, nur ein Mann allein auf der Bühne, der intensiv über die Bedeutung von Gott und Glauben nachdenkt – und damit ein Millionenpublikum findet. So habe ich ihn vor ca. 8 Jahren kennengelernt; und war fasziniert, dass das funktioniert.
Noch einmal ganz andere Sphären der öffentlichen Reichweite erzielte Peterson als politischer Aktivist. Zunehmend inszenierte er sich als Widerstandskämpfer gegen alles, was er als links, progressiv, feministisch oder queer empfand. Zunehmend bediente der Mann, der sich einst als liberal-konservativ verstand, die Talking Points der globalen Rechten: Linksradikale Globalisten und Queer-Aktivisten seien eine Gefahr für die Meinungsfreiheit. Es sei Zeit für Widerstand gegen Wokeness und anderen Wahnsinn. Nur eine radikale politische Wende könne den Westen retten. Bei der US-Wahl 2024 lobte er ausführlich Donald Trump und seine Ziele. Er würde sich «lieber den Arm abschneiden», als Biden zu wählen, sagte er in einem Interview mit der Zürcher NZZ.
Jordan Peterson polarisiert. Das war auch zu beobachten, als wir eine Folge unseres Podcasts Geist.Zeit auf Instagram ankündigten. Die Reaktionen reichten von: «Warum bietet ihr so einem Rechten eine Bühne?» bis zu: «Klasse, ich freue mich auf eine differenzierte Würdigung.»
Muss man sich aus einer theologischen Perspektive mit einem Menschen beschäftigen, der in der Öffentlichkeit längst in erster Linie als eine politische Figur wahrgenommen wird? Sein neuestes Buch handelt – von Gott. Wir finden, es ist Zeit, diesen einflussreichen Denker einmal theologisch genauer in den Blick zu nehmen: Wer ist der Gott von Jordan Peterson? Wofür nimmt er die Bibel in Anspruch?
Ringen mit Gott – oder mit inneren Widersprüchen?
Peterson selbst versteht sich als Menschen, der ringt; mit Gott, wie er sagt. Vielleicht ringt er auch noch mehr mit vielen inneren Widersprüchen seiner Haltung.
Ein Moralist, der politische Gegensätze befeuert
Petersons ständig wiederholte Botschaft lautet: Der Westen versinkt in Nihilismus und Hedonismus. Wir bräuchten dringend eine moralische Neuausrichtung auf das gemeinsame Gute. Gleichzeitig lässt Peterson keine Gelegenheit aus, politische Gegensätze zu verschärfen. Seine Sprache strotzt nur so vor Zuspitzungen («Arm abschneiden»). Er predigt die Bedeutung von Ordnung und Regeln. Als die Plattform Twitter ihn sperrte, weil er den Schauspieler und Transmann Elliot Page bei seinem Deadname nannte, hatte er die damaligen Regeln des Dienstes verletzt. Gleichwohl stellte er klar, dass er lieber sterben würde, als seinen Tweet zu löschen. Was für ein Verständnis von Moral vertritt Peterson? Und kann er sich damit auf die Bibel berufen?
Ein vermeintlich liberal-konservativer Universitätsprofessor als rechter Kulturkrieger
Peterson möchte gesehen werden als zutiefst bürgerliche Stimme der Vernunft. Er sieht die westliche Welt am Abgrund. Er ist davon überzeugt, dass Menschen wie Donald Trump und Elon Musk die Gesellschaft zurück zur politischen Mitte führen können.
Die US-Wahl hat wieder einmal eindrücklich gezeigt, wie wenig das liberale, demokratische Europa seine Gegner überhaupt kennt, geschweige denn versteht. Die reichweitenstärksten Podcast-Formate werden von rechtskonservativen Menschen wie Joe Rogan und Ben Shapiro betrieben, oder eben auch von Jordan Peterson.
Warum ist die politische Karriere von Jordan Peterson so beispielhaft für viele Entwicklungen der letzten Jahre? Was treibt ihn an? Und wie glaubwürdig ist sein vermeintliches Ziel, der Wahrheit und dem Allgemeinwohl dienen zu wollen?
Ein liberaler Religionstheoretiker als Held von evangelikalen Gläubigen
Die Verbindung von Christentum und rechtskonservativer Politik ist ein globaler Megatrend. Wer darauf antworten möchte, dass das in Deutschland oder der Schweiz nicht der Fall ist, sollte wahrnehmen: Das war auch in den USA nicht schon immer so; genauso wenig wie in Frankreich oder in Polen.
Hat Jordan Peterson zu Gott gefunden? Ist er zum Glauben gekommen oder nähert er sich ihm zumindest an? So fragen manche seiner frommen Fans. Aber nein, davon kann keine Rede sein. Sein neues Buch ist nicht anders als die früheren Werke. Religion spielte schon immer eine wichtige Rolle in seinem Denken, als kulturelle Ressource, als symbolische Grundlage des Westens. Es gibt überhaupt keine Anzeichen dafür, dass er persönlich gläubig ist im Sinne irgendeiner christlichen Konfession. Trotzdem erscheint sein Buch in einem bekannten evangelikalen Verlag in der Schweiz.
Wie passt das alles zusammen? Gerade Menschen, die mit allem, wofür Peterson steht, inhaltlich in tiefem Dissens stehen, müssen sich fragen: Wird sich diese Welle über kurz oder lang von allein erledigen? Oder ist es längst Zeit, ein solches Denken inhaltlich zu stellen und ihm auch theologisch etwas entgegenzusetzen?
Vgl. auch die Podcastfolge von Geist.Zeit: Wer ist der Gott von Jordan Peterson?
Siehe auch Kulturkampf mit der Bibel – Jordan Peterson.