Zen und die Kunst, den Nerv seiner Zeit zu treffen 

Das Kultbuch "Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten" wird 50. Eine Würdigung von Thorsten Dietz

Robert Pirsigs Bestseller Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten wird in diesem Jahr 50 Jahre alt. Handelt es sich bei diesem millionenfach verkauften Werk um einen Klassiker der Philosophie? Der Spiritualität? Oder um ein Zeitgeist-Phänomen der 1970er Jahre? All dies. Das ist das Faszinierende an diesem Buch. Es traf den Zeitgeist seiner Epoche, obwohl es das Gegenteil wollte. Vielleicht auch: Genau aus diesem Grund. 

1. Der unwahrscheinliche Bestseller 

Tatsächlich handelt es sich um einen völlig unwahrscheinlichen Bestseller. Ein Roman, der vermeintlich von einem Motorrad-Roadtrip durch die USA handelt – das mag zunächst interessant klingen. Doch bald merkt man: Das Buch hat so gut wie gar keine Handlung. Von den Hauptfiguren, einem Vater und seinem Sohn sowie einem befreundeten Ehepaar, hört man ausschliesslich die endlosen Ausführungen des Vaters, der der Erzähler der Geschichte ist. Auch die Beschreibungen der Reiseroute sind weder touristisch interessant noch sonst übermässig beeindruckend. Stattdessen besteht das Buch weit überwiegend aus Monologen. Und aus was für welchen. Eine «Chautauqua» möchte der Erzähler entfalten, wie er in Anlehnung an eine amerikanische Form der Erwachsenenbildung des 19. Jahrhunderts sagt. Zwischen kargen Einblicken in seine tragische Lebensgeschichte handelt es sich um – philosophische Ergüsse. Ausführlich sinniert er über Kant und die Aufklärung, das amerikanische Bildungssystem und schliesslich über Platon und Aristoteles, und immer wieder auch über Zen-Buddhismus. Unentwegt umkreist er die Frage „Was ist Qualität?“ – ohne sie je zu beantworten. 

Wer soll so etwas lesen? Das dachten sich auch die 121 Verlage (!), die nach den Aussagen des Verfassers eine Veröffentlichung dieses Buches abgelehnt haben.

Immerhin gab es dann doch den einen Verleger, der ihm 3000 Dollar Honorar zahlte und sogleich hinzufügte: Er solle lieber damit rechnen, keinen Cent mehr zu sehen, denn dieses Buch werde so gut wie unverkäuflich bleiben. Er veröffentliche es nur, weil es ihn persönlich so erschüttert habe, dass er sich nun nach dem Sinn seines Lebens frage (739f).

Nun erwies sich die persönliche Erfahrung dieses Verlegers als wesentlich zuverlässiger als seine vermeintliche Marktkenntnis, denn tatsächlich wurde das Buch ein Millionen-Bestseller und galt einige Zeit als meistgelesenes Philosophiebuch der Welt. Trotz allem. Warum? Weil es den Nerv seiner Zeit getroffen hatte. Es erschien in der Anfangszeit einer grossen spirituellen Welle und lässt sich als deren Rechtfertigung und Kritik in einem lesen. Doch eins nach dem anderen.

2. Zen und der religiöse Aufschwung der 1970er Jahre 

Mit seinem Erscheinungsjahr 1974 ist „Zen“ der Klassiker einer stürmischen Zeit. Die 1970er Jahre sind das religionsproduktivste Jahrzehnt mindestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Popkultur macht es sichtbar. 1968 gilt heute als Aufbruch einer politisierten Jugend. Das Jahr markiert jedoch auch religiöse Aufschwünge mit erheblicher Langzeitwirkung. 1968 erscheint das Musical Hair mit seinem Lobgesang auf das neue Zeitalter, das Age of Aquarius und all das, was man heute als Esoterik und New Age bezeichnet. Im gleichen Jahr fahren die Beatles nach Rikishesh in Indien und meditieren unter der Anleitung von Maharishi Mahesh. 1968 findet Van Morrison mit seinem Album Astral Weeks neue Klänge spiritueller Verzauberung. Pharoa Sanders veröffentlicht 1969 mit Karma ein religiöses Meisterwerk der Jazzgeschichte. Woodstock wird 1969 nicht nur zu einem Fest von Sex, Drugs und Rock’n’roll, sondern für viele auch ein spirituelles Ereignis, was sich schon an der Eröffnung durch den Yoga-Lehrer Swami Satchidananda (1914 – 2002) zeigt. 1970 erscheint mit Hal Lindsays Alter Planet Erde, wohin? nicht nur ein apokalyptisches Endzeitbuch, sondern mit einer Auflage von 30 Millionen eines der meistverkauften Sachbücher aller Zeiten. Wenig später triumphiert Jesus Christ Superstar (1971) auf den Musical-Bühnen der Welt. My sweet Lord, das Lied des stillen Beatles George Harrison von 1971 hat gleichermassen Platz für Hallelujah und Hare Krishna. 1972 gibt Aretha Franklin ihr berühmtes Amazing-Grace-Konzert, u.a. mit den Stones Mick Jagger und Charlie Watts im Publikum, über das erst 2018 ein eindrücklicher Dokumentarfilm in den Kinos erschien.

Diese popkulturellen Aufbrüche sind eingebettet in die stürmische Entwicklung der grossen Weltreligionen in diesen Jahren. Quasi überall finden grosse Umbrüche statt.

Nach dem zweiten Weltkrieg dominierten in vielen islamischen Ländern entweder Diktatoren wie der iranische Schah Palewi oder nationalistische und sozialistische Parteien wie im Irak, in Syrien und Ägypten. In den nächsten Jahren erlebt eine neue Form eines radikal religiösen und zugleich politischen Islams einen ungeheuren Aufschwung. Was Muslimbrüder und andere Aussenseiter seit Jahrzehnten vorgedacht hatten, wurde nun in vielen Varianten höchst einflussreich. Ob Gaddafi in Lybien oder Khomeini im Iran: Religiöse Erweckungsbewegungen und politische Mobilisierung verschmelzen zu einer explosiven Mischung. Manchen erscheint seither vor allem der politische Islam als grosse Bedrohung.

Für viele jedoch ist der Islam seit diesen Jahren die Religion der Befreiung von kolonialer Unterdrückung. In Ost und West. Aus dem Bürgerrechtler Malcolm X wird el-Hajj Malik el-Shabazz, aus dem Sänger Cat Stevens wird Yusuf und der Boxer Cassius Clay wird zu Muhammad Ali. 

Vor allem im mittleren Osten kommt es zu buddhistischen und hinduistischen Erneuerungsbewegungen. Noch viel mehr als die muslimischen Aufbrüche entfalteten diese auch für viele weisse, westliche Menschen erhebliche Anziehungskraft. Hippies und andere Erlösungssehnsüchtige aus dem Westen wie die Beatles pilgern nach Indien, nach Mandalay und Bombay. Meditationszentren breiten sich vor allem in den USA aus, aber auch in vielen europäischen Ländern. Yoga und Tai Chi, Chi Gong und eben Zen finden im Westen ein Millionenpublikum. Spirituelle Lehrer wie der Dalai Lama oder Thich Nath Hanh werden globale Stars.

Nicht zuletzt erlebt auch das Christentum in diesen Jahren massive Aufbrüche. Kurioserweise ist dies die in Europa am meisten übersehene Entwicklung.

Zuerst trägt die Globalisierung des evangelikalen Christentums zu dieser Entwicklung bei. Der Evangelist Billy Graham (1918-2018) wird seit den späten 1960er Jahren weltberühmt. Am spektakulärsten ist der Erfolg in Südkorea im Jahr 1973. Das einst fast vollständig buddhistisch geprägte Land erlebt eine Evangelisationskampagne Grahams, wie sie historisch fast einzigartig ist. Mehrere Millionen Südkoreaner:innen hören seine Evangeliumsverkündigung. Dieses Ereignis wird zu einer Art Wasserscheide. Bald ein Drittel der Bevölkerung bekennt sich inzwischen zum Christentum.  

In der Zeit, in der der klassisch missionarische Evangelikalismus in der Lausanner Bewegung ab 1974 zur Weltmarke wird, beginnt bereits eine neue christliche Welle. Schon länger breitete sich die Pfingstbewegung weltweit aus, vor allem im globalen Süden. Auch die Christenheit der Nordhalbkugel erfährt neue Impulse. Die Jesus People in den USA zeigen, welche Anziehungskraft ein gegenkulturelles Christentum entfalten kann. In den 1970er Jahren gehen diese Impulse auf charismatisch-evangelikale Strömungen mit starker Jugendorientierung über. Zwei weltweit ausstrahlende Gemeindebewegungen sind unmittelbare Wirkungsgeschichte der Jesus People: Die heute weltweit verbreitete Kirche Calvary Chapel entsteht, als Chuck Smith die Türen für fromme Hippies öffnet. Die durchschlagende Kraft der Evangelisationen von Lonnie Frisbee geben der Bewegung entscheidenden Aufschwung. Jahre später wiederholt sich das gleiche noch stärker bei John Wimber und der Vineyard Bewegung. In dieser Atmosphäre entstehen wesentliche Anfänge der Worship- und Lobpreismusik, die heute weltweit grosse Hallen und Stadien füllt. Die neue Verschmelzung von Glauben und Popkultur wird attraktiv für unwahrscheinliche Gläubige wie Bob Dylan, der bei Vineyard für einige Zeit zum evangelikalen Glauben findet. Der Film Jesus-Revolution (2023) gibt von diesen Aufbrüchen einen lebendigen Eindruck. 

Dieses neocharismatische Christentum ist heute der am stärksten wachsende Strang des Christentums weltweit. Es erlaubt seinen Gläubigen das Gefühl, sich ganz auf der Höhe der Zeit zu wissen und gleichzeitig kritischen Abstand zum Zeitgeist halten zu können.

Es ist unnötig zu sagen, wie unterschiedlich, ja teils gegensätzlich diese Bewegungen in vielerlei Hinsicht sind. Sie sind progressiv oder konservativ, gewalttätig oder pazifistisch, sehr westlich oder antiwestlich und das alles mit lauter Zwischenstufen. 

All diese Aufbrüche sind Teil einer grossen Verschiebung. Religion löst sich aus ihrer Verschmelzung mit der etablierten Kultur vieler Weltregionen.

Etablierte Religionsformen verlieren an Bindekraft. Auch in der religiösen Welt gilt: The exotic becomes the erotic.

Radikalisierte und kulturell entwurzelte Religion wird attraktiv über frühere Kulturgrenzen hinweg. Gegenkulturelle Religionsströmungen schicken sich an, die Landschaft des Glaubens neu zu sortieren. Religion ist zunehmend nicht mehr Stütze der bisherigen gesellschaftlichen Ordnung, sondern Herausforderung derselben, entweder in weltflüchtigen Angeboten einer religiösen Subkultur, oder auch in revolutionären Umwälzungen. 

3. Zen und die Hippie-Kultur 

a) Die Zeit der Hippies 

Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten erscheint im Zenit der damaligen religiösen Welle. Das Buch greift eine solche Zeitstimmung auf. In vielerlei Hinsicht ist Zen Teil der spirituellen Seite der kulturellen Gegenbewegung dieser Jahre. Vor allem die Hippie-Bewegung gilt als Inbegriff eines kulturkritischen und vielfach religiösen Aufbruchs.

Der Titel knüpft an den Titel eines Werkes an, das damals neue Aufmerksamkeit fand: Das schon 1948 veröffentlichte Buch Zen und die Kunst des Bogenschiessens des deutschen Diplomaten Eugen Herrigel wird in den 70ern neu entdeckt. Herrigel berichtet von seiner Zeit als Diplomat des Dritten Reichs im verbündeten Japan und seine intensive und damals wirklich noch aussergewöhnliche Initiation in japanische Kultur und Spiritualität. In den nächsten Jahren wird Zen-Buddhismus eine Welle sein. Werke wie Die große Befreiung. Einführung in den Zen-Buddhismus von Daisetz Suzuki und Zen-Geist, Anfänger Geist von Shunryu Suzuki werden erfolgreiche Bestseller in der westlichen Welt. Und Robert Pirsig kennt diese Welle sehr genau, die zu reiten er sich anschickt. 

Zeichnen wir in einer ersten Annäherung nach, wie Pirsig das Lebensgefühl dieser Generation aufgreift.

Für viele Hippies ist die Welt kalt und beziehungslos geworden. Die neue Spiritualität lehnt sich auf gegen die seelenlose Moderne. Man könnte von einer romantischen Reaktion sprechen. 

Ein Vater und sein Sohn sowie ein befreundetes Ehepaar sind mit ihren Motorrädern in den nördlichen USA unterwegs. Niemand, der Anfang der 1970er mit dem Motorrad durch die USA fuhr, wird das ohne „Born-to-be-wild“-Gefühle getan haben. Der Film Easy Rider von 1968 beginnt damit, wie Dennis Hopper und Peter Fonda auf Harley Davidsons durch das wilde Amerika fahren, untermalt vom Song Born to be wild von Steppenwolf. Die Band heisst so in Anlehnung an Herman Hesses Kultroman von 1927. Die Romane des deutsch-schweizerischen Literaturnobelpreisträgers Hermann Hesse wurden in diesen Jahren von Kalifornien bis Japan wiederentdeckt. 

b) Das Recht des Aufruhrs 

Die Monologe des Erzählers basieren stark auf der Biografie des Autors. Wir halten uns an dieser Stelle an die literarische Darstellung: Einst war er als Hochschuldozent tätig, bis bei ihm eine psychische Erkrankung diagnostiziert wurde. Nach einer Zwangseinweisung erhielt und erlitt er die psychiatrischen Behandlungsmethoden seiner Zeit – u.a. Elektroschocks. Die Folgen der Behandlung waren für viele dramatisch. Der Erzähler beklagt die Zerstörung seines Erinnerungsvermögens und seiner Persönlichkeit. Ständig trifft er auf alte Bekannte, die ihn erkennen, an die er aber keine Erinnerung mehr hat. Seine Persönlichkeit wurde vielfältig fragmentiert. Der Weg zurück ins Leben ist mühsam. 

«Ehe die Elektroden an seinem Kopf befestigt wurden, hatte er schon alles Reale verloren: Geld, Eigentum, Kinder; selbst seine bürgerlichen Rechte waren ihm per Gerichtsbeschluss aberkannt worden. Geblieben war ihm nur der eine verrückte einsame Traum von der Qualität… Dann, nachdem man die Elektroden befestigt hatte, verlor er auch dies. Ich werde nie alles wissen, was er damals im Kopf hatte, niemand wird es je wissen. Erhalten sind nur noch Fragmente: Trümmer, verstreute Notizen, die man zusammenstückeln kann, die aber weite Gebiete unerklärt lassen.»

Unter dem Einfluss tiefenpsychologischer und humanistischer Therapien verabschiedete sich die Psychiatrie ab den 1960/70ern weitgehend von diesen rabiaten Therapieformen. Für nicht wenige kam diese Entwicklung jedoch zu spät. Sie mussten weiterleben mit den seelischen Verwüstungszonen, die diese Behandlungen hinterlassen hatten. Immer stärker ringt der Erzähler mit der Spaltung seiner Person, mit dem, was er mal war und dem, was er ist. Er muss sich seinem früheren Ich gleichsam wie einer fremden Person annähern, die er in Anlehnung an Platon Phaidros nennt; und erlebt gleichzeitig, wie dieser Phaidros immer wieder er selbst ist bzw. in seine Gegenwart hineinragt.

Die Erzählung handelt von einem Ausbruch aus der verwalteten Welt. Von der Kritik eines technizistischen Ungeistes. Die erlittene Zerstörung der eigenen Seele ist Glaubwürdigkeitssiegel eines Mannes, der sehr gut weiss, warum er Teil dieser Gegenkultur ist, warum er empört ist über die dualistische, gespaltene Kultur der alten Welt. Aber zugleich lernt er immer mehr, warum diese Empörung keine Lösung auf Dauer ist.

c) Warum – ein Motorrad warten? 

Ist Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten also die Buchversion von Easy Rider? Weit gefehlt. Das Besondere an diesem Buch ist es vielmehr, genau an diesem Zeitgefühl anzusetzen und dann den nächsten Schritt zu gehen.

Das Buch reitet nicht einfach eine Welle des Zeitgeistes, es entpuppt sich viel mehr als Kritik einer verbreiteten Zeitstimmung. 

Immer kritischer wird der Blick des Erzählers auf diese Aussteiger mit ihrer Sehnsucht nach Freiheit und Weite. Sie nutzen wie selbstverständlich die Errungenschaften der technischen Moderne. Und finden zugleich kein Verhältnis dazu. In der Erzählung wird dies deutlich im Gegenüber zu den beiden Freund:innen. Sie interessieren sich nicht für die technischen Aspekte des Motorrades. Sie tun dies nicht einmal so weit, wie es für einen sicheren und nachhaltigen Gebrauch des Motorrads dringend nötig wäre. Viele Hippies versuchen, aus der Welt aussteigen – und sie gleichzeitig weiterhin als selbstverständlich vorauszusetzen.

Der Erzähler inszeniert sich mehr und mehr als Gegenbild dieser Stimmung. Ausführlich beschreibt er die Wartung eines Motorrads. Quälend gründlich breitet er alles aus, was für einen Ölwechsel nötig ist. Warum das alles? Weil sich im Konkreten das Grundsätzliche lernen lässt. Es gibt keinen Ausstieg aus der Welt. Man kann versuchen zu fliehen. Aber eine solche Flucht kann nicht gelingen.

«Das Motorrad, an dem man eigentlich arbeitet, ist man selbst. Die Maschine, die scheinbar ‹da draussen› ist, und die Person, die scheinbar ‹hier drinnen› ist, sind in Wirklichkeit nicht zwei getrennte Dinge.» (581). 

Das Motorrad ist die grosse Metapher dieser Erzählung. Sie steht nicht nur für die Welt der Technik. Sie steht für das Phänomen einer halbierten Moderne. In der Arbeit am Motorrad und im Nachdenken über die eigene Zeit entwickelt Pirsig seine existenziellen Erkenntnisse.

  • Festsitzen. Jeder, der sich an die Reparatur technischer Geräte macht, lernt die Erfahrung des Festsitzens (493) kennen. Alle Vermutungen, wo der Fehler liegen könne, erweisen sich als falsch. Man sitzt fest. Es geht nicht weiter. «Es ist ganz normal, wenn in solch einem Augenblick das Angst-Wut-Syndrom auftritt und man diesen Seitendeckel am liebsten mit Hammer und Meissel bearbeiten oder mit einem Vorschlaghammer abschlagen würde.» (495) Für Pirsig ist die Haltung des Zen das ideale Antidot. Im Festsitzen darf man sich nicht verbeissen. Man braucht Abstand, um vielleicht noch einmal einen ganz neuen Zugang zum Problem zu entdecken.
  • Entmutigung. Ein weiteres existenzielles Thema ist die Erfahrung von Entmutigung. Für Pirsig ist das eine Schlüsselfrage des Menschseins. Lasse ich mich frustrieren, so dass ich mich von allem abwenden möchte? Auch hier helfen Lektionen des Zen. «Seine wichtigste Übung, ‹einfach sitzen›, muss die langweiligste Übung von der Welt sein (…) Und doch liegt im Zentrum all dieser Langeweile genau das, was der Zen-Buddhismus uns lehren will.» (566) Entmutigung ist für Pirsig eine ungeheuer vielschichtige Gefährdung des Menschen. Sie kann sich als Orientierungslosigkeit, Ängstlichkeit, Ichbezogenheit oder Wertstarrheit zeigen, Erfahrungen, denen der Erzähler ausführlich nachspürt.
  • Ungeduld. «Ungeduld ist die erste Reaktion auf einen Rückschlag und kann sich leicht in Ärger und Wut verwandeln, wenn man nicht auf der Hut ist.» (566) Die Ungeduld kann zur abschüssigen Neigung werden, entweder hinzuschmeissen oder hastig zu machen und Fehler zu produzieren, deren Behebung sehr viel länger dauert als ihre Vermeidung. Was lehrt das Sitzen? Sich Zeit zu nehmen. Langsamer zu machen, wenn der innere Antrieb hetzen möchte.  
  • Dranbleiben. Für Pirsig ist Zen kein Fluchtfahrzeug aus einer anstrengenden Realität. Anders als viele meinen, ist es kein Versprechen einer religiösen Superkraft, mit deren Hilfe alles endlich leicht gelingen wird. Zen ist für Pirsig die Kunst des Dranbleibens: An der Realität mit ihren Spannungen und Frustrationen, an den Beziehungen mit anderen, an der Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie, auch wenn es schmerzhaft ist. 

4. Die Rückreise zur Realität 

Was sich im Umgang mit dem Motorrad lernen lässt, ist in der Erzählung immer schon verwoben mit den zwischenmenschlichen Herausforderungen des Erzählers.

Auf Störgeräusche achten, rechtzeitige Pflege des Geräts, Sorgfalt im Detail – all das ist auch für die sozialen Beziehungen des Menschen sehr wesentlich. 

Zen ist ein Buch der Selbsttherapie. Die seelische Schädigung des Erzählers zeigt sich nicht zuletzt in den menschlichen Beziehungen. Es fällt ihm schwer, persönliche Nähe aufzubauen. Wie auch, wenn er keine zu sich selbst hat. Das belastet vor allem die Beziehung zu seinem Sohn. Das ist die Realität, die der Pflege bedarf, der Zuwendung und Achtsamkeit.  

Mehr und mehr wird deutlich: Seinem Sohn geht es alles andere als gut. Die Gründe bleiben in der Schwebe: Ist das widerständige, erratische Verhalten des Jungen einfach ein Verhalten, das viele Pubertierende in der einen oder anderen Ausprägung zeigen? Oder ist es Zeichen einer beginnenden psychischen Krise, wie der Vater sie schon erlitten hat? Ist es eine Folge der traumatisierenden Behandlung des Vaters und seiner Zerstörung durch die Zwangseinweisung? Oder sind alle diese Faktoren beteiligt? 

Es wird erst ganz am Ende besser, als der Vater lernt, über seine eigenen Kämpfe zu reden, ohne seinen Sohn zu überfordern. «Damit, dass ich ihn so vor der Vergangenheit abschirme, richte ich vielleicht mehr Schaden als Nutzen an.» (600)

Nach vielen Reflexionen über die Kunst, ein Motorrad zu warten, macht sich der Erzähler an die eigentliche Aufgabe: Er arbeitet an der Beziehung zu seinem Sohn, die nicht zu trennen ist von seiner Beziehung zu sich selbst.

Allmählich lernt er, sich zu öffnen, von sich zu erzählen. Und ebenso auch sein Sohn. Als es fast zu spät erscheint, finden sie ansatzweise zu einander.  

Die Verhältnisse ändern sich nicht dadurch, dass man Stille findet und kosmische Verbundenheit erfährt. Es ändert sich da etwas, wo Menschen sich ihrer eigenen Beschädigung stellen. Die Arbeit am Gerät in sorgfältiger Kleinarbeit und die Arbeit an der Beziehung in geduldiger Kommunikation – das gehört zusammen.

Aus Sicht des Erzählers ist es das Problem der gegenkulturellen Strömung seiner Zeit, sich von allem abwenden zu wollen in allerlei religiösen Fluchten. Das kritische Moment dieser Aufbrüche ist berechtigt, entscheidend ist jedoch die Rückreise. Darin sieht er die eigentliche Bedeutung des Zen. Zen nicht einfach als Modespiritualität, sondern als lebenszugewandte Haltung, als Bereitschaft, sich dem Leben zu stellen und sich in den Anstrengungen des Alltags zu bewähren – statt sich in in ihre spirituelle Vermeidung zu flüchten. 

Und das macht dieses Buch so besonders. Dass es inmitten eines spirituellen Aufbruchs die Gefahr seiner Vereinseitigung mitdenkt.

Die spirituelle Reise wird zur blossen Flucht, wenn sie nicht mit einer Rückreise verzahnt wird: Mit der Wiederzuwendung zur Maschinen- und Menschenwelt, in der wir leben. 

Warum hat dieser Roman den Nerv seiner Zeit so getroffen? Weil er die Welle des damaligen Zeitgeistes getroffen hat? Weil er auf der Höhe der Zeit war? Ja, aber vor allem wohl auch darum, weil es seiner Zeit gleichzeitig voraus war.

Vielleicht ist das auch grundsätzlich die Formel für alles, was den Nerv seiner Zeit trifft: Es antwortet auf die Fragen einer Zeit und fordert diese gleichzeitig heraus. 

Literatur: 

Robert M. Pirsig: Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten. Frankfurt: Fischer TaschenBibliothek 2021 (1974) 

Bild: https://pixabay.com/de/photos/harley-motorrad-harley-davidson-1238021/