Armin Sierszyn gibt in seinem Buch «Frommes Zürich» einen eindrücklichen Überblick zur Geschichte des Pietismus in Zürich von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Vgl. diese Besprechung: «Frommes Zürich» von Armin Sierszyn | Fokus Theologie
Bei aller Wertschätzung für diese Frömmigkeitsbewegung stellen sich mir auch kritische Fragen zu ihrer Darstellung, vor allem im Blick auf die undifferenzierte Darstellung des Evangelikalismus und die Kulturkampfperspektive insgesamt.
1. Evangelikalisierung
Sierszyn berichtet, wie die Evangelische Gesellschaft ihre Distanzierung von der evangelisch-kirchlichen Vereinigung begründete mit der «neuerdings von der EKVZ vertretenen (…) evangelikalen Ausrichtung.» (311; vgl. auch 295) Auch wenn sich die Zürcher Pietisten in der Öffentlichkeit zur Bezeichnung «evangelikal» eher zurückhaltend verhielten, da dieses Wort in der Schweiz vor allem mit «freikirchlich» assoziiert würde, bestätigt Sierszyn grundsätzlich die Richtigkeit einer solchen Wahrnehmung. In der Tat sei «der unerwartete Aufbruch der EKVZ ab 1987 ein zürcherischer Spross jenes weltweiten evangelikalen Aufbruchs» (318) ab den 1970er Jahren gewesen.
Sierszyn kommt immer wieder auf den Evangelikalismus zu sprechen. Man erfährt zunächst, dass es sich um die angelsächsische Form erwecklichen Christentums handelt, zu der Schweizer Fromme immer wieder engen Kontakt hatten (vgl. 87, 307, 318). Die Wirkung dieser Erweckungsbewegungen hält er offensichtlich für wesentlich grösser als vergleichbare kontinentale Aufbrüche. «Der Glaube und das Arbeitsethos der Erweckten ermöglichen in England unter anderem die Industrialisierung, aber auch die Entstehung christlicher Gewerkschaften sowie bedeutender Kräfte für die Innere und Äussere Mission.» (40, vgl. 40-41 insgesamt.) Sierszyn entwickelt einen regelrechten typologischen Gegensatz angloamerikanischer und europäischer Entwicklungen: «Anders als in England und in den USA reicht deshalb die Kraft kontinentaler Erweckungsbewegungen bei Weitem nicht aus, um den Agnostizismus und Skeptizismus der Aufklärung zu überwinden.» (108) Immer wieder wird das «Beispiel von England» beschworen, wo später säkulare Heilsideologien viel weniger Erfolg gehabt hätten. Historisch ist eine solche Gegenüberstellung völlig unplausibel. Am ehesten leuchtet eine solche Gegenüberstellung von christlicher und christentumsfeindlicher Aufklärung im Blick auf das katholische Frankreich ein. Aber weder in der Schweiz noch in Deutschland war die Aufklärung signifikant christentumskritischer als in den USA oder in Grossbritannien. Tatsächlich waren die meisten deutschen Staaten Ende des 18. Jahrhunderts sehr viel aufklärungsfeindlicher als z.B. die Gründungsväter der USA. Noch im Ersten Weltkrieg herrschte in Deutschland das Bewusstsein vor, als christliche Nation im Krieg zu stehen, im Gegensatz zu dem für gottlos gehalten Frankreich oder bei den als «Krämervolk» abgewerteten Engländern.
Vor allem im Blick auf die Schweiz wird es völlig fragwürdig, wenn Sierszyn das 19. Jahrhundert für den Kanton Zürich als ein «Jahrhundert der Entchristlichung» (188) bezeichnet, im Gegensatz zur vermeintlich viel besseren Entwicklung in England.
Für viele Lesende wäre wenigstens ein kurzer Überblick zum Profil des Evangelikalismus hilfreich gewesen,[1] zumal es dazu eine Fülle von sehr guter internationaler Überblicksliteratur gibt. in der tatsächlichen historischen Entwicklung ist der Evangelikalismus sehr viel weniger homogen, als die wenigen Einordnungen Sierszyns erkennen lassen.
Während der US-Evangelikalismus im 18. und 19. Jahrhundert vielfach progressive Entwicklungen der Gesellschaft anstösst (Kritik an Sklaverei und Rassismus, Einsatz für Gleichheit von Frauen, Förderung von sozialem Ausgleich) gibt es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend kulturpessimistische, antimoderne Spielarten des Evangelikalismus und Fundamentalismus.
Gerade in den letzten Jahren wurden im amerikanischen Evangelikalismus zunehmend tiefe Spannungen deutlich. Die höchst erfolgreiche Unterstützung von Donald Trump hat dem Evangelikalismus einen gesellschaftlichen Einfluss beschert wie selten zuvor. Zugleich wurde dadurch die evangelikale Bewegung auch so umstritten wie nie. Nicht nur dass sie inzwischen nicht mehr wächst, sondern an Zulauf verliert. Auch intern gibt es intensive Diskussionen über Kurs und Ausrichtung. Diese gegenwärtigen Verwerfungen haben eine lange Vorgeschichte. Das grosse Zelt der evangelikalen Bewegungen hatte immer schon viele interne Sektionen: Es gibt traditionalistische Gläubige und charismatische oder pentekostale Strömungen mit höchst modernem Erscheinungsbild; Kirchen, die schon seit dem 19. Jahrhundert Frauen ordinieren und Kirchen, die den Ausschluss von Frauen von Predigt und Leitung zum verpflichtenden Bekenntnis gemacht haben. Für einige ist das Bekenntnis zur Irrtumslosigkeit der Bibel inklusive einer wortwörtlichen Auslegung der Schöpfungsgeschichte im Gegensatz zu allen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der Gegenwart Kennzeichen des wahren Glaubens. Andere haben schon seit langem ein breites Spektrum theologischer Ausbildungen, in denen eine gewisse Vielfalt von Zugängen zur Bibel anerkannt wird. Alle diese Strömungen haben heute Einfluss auf die Frommen in Europa. Und sie exportieren seit Jahrzehnen auch ihre internen Spannungen und Gegensätze in alle Welt.
Von dieser inneren Vielfalt evangelikaler Strömungen und ihrer Wirkungsgeschichte in der Schweiz erfährt man bei Armin Sierszyn so gut wie nichts.
An einer Stelle wird ein von einem Konflikt berichtet: Zwischen der EKVS und der EKVZ kommt es in der Frage der Unterstützung frommer Theologiestudierender zu einem Konflikt über deren theologische Ausrichtung. Sierszyn zitiert eine Stimme aus dem EKVS-Vorstand, die sich dagegen ausspreche, dass jemand «den Pietismus oder gar Fundamentalismus toleriere oder für sie Verständnis zeige». (302) Nun kennen wir nicht die damals betroffenen Personen dieser Debatte. Nur: Spannungen zwischen fundamentalistischer Bibelauffassung und klassisch pietistischer Frömmigkeit sind in den 1980er Jahren gang und gäbe. Sierszyn sieht den Skandal darin, dass es damals Anti-Pietisten in der EKVS gegeben hat. Die durch den Fundamentalismus hervorgerufenen Spannungen werden überhaupt nicht thematisiert.
Die Darstellung konzentriert sich ganz und gar auf den Gegensatz aller pietistischen Strömungen zum Liberalismus und Modernismus. Innerpietistische Unterschiede und Spannungen werden praktisch nur unter einer Perspektive thematisiert: Treue zum Glauben an die Bibel oder Abfall in Richtung einer modernen, historisch-kritischen Theologie.
Es ist keineswegs so, dass Sierszyn diese Welten nicht hinreichend kennt oder alle Themen, in die er persönlich involviert ist, aus der Darstellung heraushalten möchte. So berichtet er z.B. darüber, wie er von kirchenpolitischer Seite selbst ins Gespräch gebracht wurde als möglicher Inhaber einer Stiftungsprofessur an der theologischen Fakultät in Zürich; und wie dieser Plan aufgrund des deutlichen Widerspruchs von Fakultätsmitgliedern fallen gelassen wurde. Sierszyn hat viele Jahre an der STH Basel unterrichtet (1973-2013) und auf unterschiedlichen Ebenen Verantwortung übernommen. Die 1970 gegründete FETA (ab 1994 STH) bietet seit über 50 Jahren ein wissenschaftliches Theologiestudium an mit dem Ziel, allen Schweizer Kirchen, auch den Landeskirchen, qualifiziertes Personal mit bibeltreuer Grundhaltung anbieten zu können. Bei über tausend Studierenden im Laufe der Zeit wird man zahlenmässig auf jeden Fall von einem eindrücklichen Erfolgsprojekt frommer Kreise reden müssen. Insofern ist es höchst erstaunlich, dass die STH in diesem Buch praktisch keine Rolle spielt.
Insbesondere in den 1970er bis 1990er Jahren trat die damalige FETA, vor allem ihr Gründungsrektor Samuel Külling, selbstbewusst als Teil des fundamentalistischen Flügels der evangelikalen Bewegung auf. Külling war der einzige deutschsprachige Theologe, der zum Verfasserkreis der Chicagoer Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel gehört (1978-1988). In Forschung und Lehre sowie in vielen populären Zeitschriftenbeiträgen traten Külling und andere vehement für typisch fundamentalistische Anliegen ein, wie die Ablehnung sämtlicher neuer Hypothesen zur Entstehung der Bibel, Ablehnung der Evolutionslehre, Einsatz für den Glauben an eine wenige tausend Jahre alte, «junge Erde», Fundamentalkritik an gesellschaftlichen Veränderungen nach 1960 wie z.B. Ordination von Frauen zum geistlichen Amt und Gleichberechtigung der Geschlechter etc.[2] Eine solche Haltung war keineswegs der Konsens aller pietistisch-erweckten Kreise in der Schweiz, sondern brachte vor allem Ende des 20. Jahrhunderts manche Spannungen mit sich. Alle, die diese Geschichte kennen, wissen, wie stark vor allem Samuel Külling viele andere Ausbildungsstätten und Bewegungen der Schweizer evangelikalen Welt als nicht so bibeltreu wie die FETA/STH abwerten konnte.
Dass die STH Basel in diesem Buch quasi gar nicht vorkommt, wird auch ihrem Gewicht für die heutige evangelikale Landschaft der Schweiz und auch für die Frommen in der Landeskirche nicht gerecht. Denn nicht wenige Menschen mit abgeschlossenem Studium in Basel finden nach einem Anschlussstudium an einer staatlichen Universität ihren Weg ins kirchliche Pfarramt, wobei nicht wenige sich ihrer STH-Prägung sehr viel entschiedener verbunden fühlen, als dem, was sie an den Universitäten gehört haben. Sie in dieser Darstellung nur ganz am Rande aufleuchten zu lassen, verzerrt die Realität erheblich.
So sehr es Sierszyn m.E. gut gelingt, in früheren Jahrhunderten stets ein ziemliches Spektrum pietistischer Einstellungen vorzustellen, so verengt sich die Darstellung für die letzten 50 Jahre auf eine sehr dualisierende, konfrontative Perspektive. Dabei formuliert Sierszyn selbst mehrfach das Motiv eines notwendigen Kulturkampfes. Es ist richtig, dass sich eine solche Einstellung auch im Pietismus spätestens seit dem 19. Jahrhundert beobachten lässt. Vor allem auch in Deutschland haben gewichtige Teile des erwecklichen Protestantismus einen stark antiliberalen, antimodernen Kurs vertreten, in dem die Aufklärung insgesamt zu einem Irrweg erklärt wurde; anders als z.B. in den USA und in Grossbritannien.
Offenkundig gewann in den letzten Jahren eine solche Ablehnung der aufgeklärten, liberalen Moderne zusätzlich Schwung durch den Einfluss des modernen Fundamentalismus und der christlichen Rechten in den USA.
Die Verbindung zu letzterem muss man nicht künstlich von aussen an Sierszyns Gesamtsicht der Geschichte herantragen. Im vierten Band seines Buches „2000 Jahre Kirchengeschichte“, erschienen im Jahr 2000, lässt Sierszyn keinen Zweifel an seiner Sympathie für den Kulturkampf der „Neuen christlichen Rechten“ in den USA. Er nennt ausdrücklich positiv Bewegungen wie die Moral Majority von James Dobson oder eben die christliche Rechte, die damals mit Personen wie Jerry Falwell und Pat Robertson in den öffentlichen Debatten der USA fest etabliert war. Bedauernd stellt er fest: „Die europäische Christenheit hätte weder Geschmack noch Kräfte für Einsätze dieser Art.“ [3]
Durch diese Verengung wird die Darstellung der letzten 50 Jahre in diesem Buch am stärksten ergänzungsbedürftig durch andere Perspektiven. Heutige Pietisten, Evangelikale oder Charismatiker in der Reformierten Kirche werden von sehr unterschiedlichen Strömungen beeinflusst. Sie werden geprägt von teilweise besucherstarken freikirchlichen Gemeinden, der moderierenden Stimme der Schweizer Evangelischen Allianz, der weltweiten Vernetzung mit unterschiedlichen Frömmigkeitsprägungen, die in der Musik (Lobpreis, Worship), in Vorstellungen von Geistesgaben und einer intensiven Praxis freien und gemeinsamen Betens Raum gewinnt.
Natürlich muss man auch klar sagen: Das alles darzustellen hätte man nicht im Ernst von diesem Buch fordern können. Es gibt bislang kaum solide Forschungen zur Geschichte der Evangelikalen in der jüngeren Schweiz, die für eine solche Gesamtdarstellung eigentlich nötig wären. Aber gerade jemand mit der Lebenserfahrung Armin Sierszyns hätte für künftige Betrachtungen des Evangelikalismus in der Schweiz mehr Vorarbeit leisten können.
2. Kulturkampf
Wie kommt es, dass Sierszyns Darstellung vor allem in der jüngeren Gegenwart zu einer so starken Vereinfachung und Homogenisierung neigt? Der Grund ist m.E. Sierszyns geschichtstheologische Gesamtsicht, die er in mehreren Reflexionsabschnitten darstellt. (Vgl. vor allem folgende Abschnitte: S. 170; 183; 250-251; 270 und 282-283.) Führen wir sie uns im Grundriss vor Augen:
Laut Sierszyn habe der Umbruch der Aufklärung wohl einige gute Anliegen befördert, die schon der Pietismus betont habe. Im Ganzen aber handele es sich um einen ideologischen Umbruch, der zu einer Abkehr vom christlichen Fundament des Abendlandes führte. Die schubweise folgende Entchristlichung und Säkularisierung haben dramatische Konsequenzen. Denn wo das Glaubensfundament einer Entmythologisierung verfalle, da entstehe ein ideelles Vakuum, das durch neue Ideologien gefüllt werden müsse. So sei die Aufklärung mit ihrem Säkularismus die entscheidende Voraussetzung für die tödlichen Ideologien des 20. Jahrhunderts, den Faschismus und Kommunismus.
«Es sind die revolutionären Säkular-Ideologien aus den Sümpfen des 18. und 19. Jahrhunderts, die den Kontinent Europa im 20. Jahrhundert in den Übermut zweier Weltkriegs-Katarakte hineinziehen.» (282; vgl. auch 252)
Habe es nach dem Zweiten Weltkrieg noch eine kurze Zeit christlicher Besinnung gegeben, so hätten die 68er Umbrüche zu einer endgültigen Durchsetzung des Liberalismus und Säkularismus geführt, die sich stärker als je zuvor in der Zerstörung der bisherigen moralischen Grundlagen der Gesellschaft zeige.
Ich halte diese Gesamtsicht für hochproblematisch. Komplexe geschichtliche Prozesse werden in einer Weise radikal vereinfacht, die weder die Errungenschaften der Moderne noch die problematischen Seiten am politisch-konservativen Christentum zu sehen erlaubt. An dieser Stelle möchte ich auf nur einige Punkte hinweisen, wo sich diese Sicht auch am dargestellten Material in keiner Weise bewährt.
a) Totalkritik des Schweizer Liberalismus
Nur an einer Stelle kommt Sierszyn etwas ausführlicher auf die Anfänge der Demokratisierung in Zürich 1831 zu sprechen: «Eine radikal-liberale Strömung im Grossen Rat stösst nun zügig eine bürgerliche Erneuerung an: Volkssouveränität, Glaubensfreiheit, Pressefreiheit, Handels- und Gewerbefreiheit, Gewaltentrennung, Säkularisierung des Bildungswesens und andere liberale Postulate werden nun zügig eingeführt.» (97). Sofort kippt die Darstellung ins Negative. «Durch eine modern gebildete Lehrerschaft soll das Gedankengut des radikalen Liberalismus bereits in der Schule der Jugend beigebracht werden.» (98) Obwohl Sierszyn selbst einräumt, dass dieser Liberalismus gar nicht offen religionsfeindlich war, wird er ständig als «radikal» bezeichnet, vor allem weil er die Bildung nicht mehr unter der Oberaufsicht der Kirche belässt und das Landvolk sich vom Tempo der Entwicklungen überrumpelt fühlt. Sierszyn attestiert den «bibelgläubigen Christen der Zeit» (170), dass sie mit ihren Vorbehalten wohl «die Folgen eines übermütigen Fortschritts ohne Gott» (ebd.) geahnt hätten.
Aus westlicher Perspektive ist die Entwicklung der Schweiz im 19. Jahrhundert eine einzigartige Erfolgsgeschichte: Durchsetzung der Freiheits- und Gleichheitsrechte als Fundament der staatlichen Ordnung, Einführung repräsentativer Demokratie, erste Verfassung 1848, zunehmende Ergänzung durch direktdemokratische Elemente in den Jahren 1874 und 1891. Ja, vieles gelingt nicht auf Anhieb, erst im 20. Jahrhundert gelten Grundrechte wirklich für alle Menschen, z.B. auch für Frauen. Gleichwohl handelt es sich bei der Entstehung der liberalen Schweizer Demokratie um einen Glücksfall, um den die Schweiz mit Recht von so gut aus wie von jeder anderen Nation beneidet wird, ganz sicher von demokratischen Deutschen. In Sierszyns Darstellung findet sich zu dieser Entwicklung so gut wie nichts.
Die Schweizer Geschichte, ihre Liberalisierung und Demokratisierung, all das bleibt weitgehend ein bedrohlicher Hintergrund, demgegenüber die frommen Kreise sich behaupten müssen.
«In den Jahrzehnten nach 1847, als der politische Liberalismus und die Liberale Theologie ihren Siegeslauf antreten» (170) sei es ihre Herausforderung gewesen, «sich gemeinsam gegen die um sich greifende Entchristlichung zu wehren.» (Ebd.) Direkt im Anschluss an die Darstellung dieser Schweizer Entwicklung schreibt Sierszyn: «Heute wissen wir, dass schreckliche Gräuel des 20. Jahrhunderts ihren Ursprung im 18. und 19. Jahrhunderts hatten: in pseudochristlichem Idealismus, in atheistischem Materialismus, in rauschendem Nationalismus und bezaubernder Romantik.» (170) Offenbar wird hier der deutsche Faschismus aus der Durchsetzung liberaler Ideen abgeleitet. Nur: In Deutschland gab es gleichzeitig zur Schweizer Entwicklung 1848 keine Mehrheit für eine parlamentarische Demokratie, die auf der Anerkennung persönlicher Freiheitsrechte aufgebaut war. Und das gilt vor allem für die Mitglieder aller christlichen Kirchen, katholisch, landeskirchlich und freikirchlich. Das Problem der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist in Deutschland nicht ein Übermass an liberalen und demokratischen Überzeugungen, sondern im Gegenteil: Antiliberalismus und Antimodernismus, vor allem bei der kirchlichen gebundenen Bevölkerung. Aus deutscher Sicht finde ich Sierszyns antiliberale Geschichtsphilosophie vollkommen abwegig und auch gefährlich. Gerade der Vergleich der Schweizer Geschichte mit der Deutschen zeigt ja nun gerade, dass die sehr viel liberalere und demokratische Schweiz weniger anfällig für autoritäre Politik war als Deutschland; oder z.B. auch die katholischen Länder Italien und Spanien.
Hinzu kommt: Sierszyns Darstellung zeigt selbst, dass die Haltung der Pietisten zu dieser Entwicklung nicht völlig einheitlich ist. Ende des 18. Jahrhundert berichtet er von den Herrnhuter Pietisten, dass «vermutlich alle Mitglieder der Brüdergemeinde des Orts auf der Seite der Stäfner Demokraten» (116) gestanden hätten. Dass Beispiel zeigt, dass es auch Schweizer Pietisten gab, die die Haltung der amerikanischen und englischen Evangelikalen teilten, die die Demokratisierungsprozessen ihrer Heimatländer vielfach unterstützt haben. Im Unterschied dazu standen dann offenbar die meisten Schweizer Frommen in der Mitte des 19. Jahrhunderts offenbar (wie übrigens auch die Mehrheit der traditionell katholischen Bevölkerung der Schweiz) der Liberalisierung des Landes kritisch gegenüber; genauso wie es die allermeisten Angehörigen der deutschen Erweckungsbewegungen in Deutschland taten. M.E. müssten nach den Erfahrungen der letzten Jahrhunderte ihre geistlichen Nachfahren einräumen können: Damit stand diese Generation unserer frommen Vorläufer leider Gottes auf der falschen Seite der Geschichte. Bei Armin Sierszyn hingegen finden sie mit ihrer antiliberalen Haltung durchgängig Beifall, weil es Aufklärung und Liberalismus gewesen sein sollen, die Faschismus und Kommunismus ermöglicht hätten.
Armin Sierszyn beruft sich für seine Gesamtdeutung der Geschichte immer wieder auf seinen Doktorvater Walter Künneth (1901-1997). In seinem Buch «Der grosse Abfall» (1947) legte Künneth eine dem damaligen christlich-konservativen Zeitgeist nach dem Krieg entsprechende Geschichtsdeutung vor, dass die Säkularisierung der Ursprung allen Übels gewesen sei, dass der Nationalsozialismus intrinsisch atheistisch gewesen sei, ebenso wie auch der Kommunismus, und dass allein ein Staat auf christlicher Grundlage solchen Katastrophen widerstehen könne. Eine solche Sicht wird weder der historischen Entwicklung in Deutschland gerecht, noch ist sie typisch pietistisch oder evangelikal.
Soziale Bewegungen für Gerechtigkeit
Es gibt Stellen, an den Sierszyn andeutet, dass der Pietismus auch von modernen Emanzipationsbewegungen lernen könnte (287). Kein Wunder, hat Sierszyn doch im historischen Teil seiner Darstellung selbst vielfach darauf hingewiesen, wie sehr sich pietistische Kreise wenigstens ansatzweise um die Gleichberechtigung von Frauen und um die Bekämpfung sozialer Gegensätze verdient gemacht haben. Umso mehr befremdet es, wie stark die Modernisierungsschübe des 20. Jahrhunderts einer Totalkritik verfallen.
«In der Nachkriegszeit führen die gleichen alten Säkulargeister in neuen Farben und Gewändern den ganzen Kontinent in den Niedergang einer Glaubenslosigkeit und Ichkultur, welche die Menschen vereinsamen lässt.» (282)
Geradezu verstörend fand ich den Bericht über die Einladung des deutschen Theologen und FETA-Professors Georg Huntemann im Jahr 1989. Vor voll besetzter Grossmünsterkirche entfaltet Huntemann einen fundamentalen Angriff auf die Strömungen der Zeit, vor allem den Feminismus. Dabei behauptet Huntemann eine «patriarchalische Offenbarungsstruktur der Heiligen Schrift», angesichts derer man sagen müsse: «Die feministische Theologie ist daher antijüdisch und antichristlich und sie setzt letztlich die Ideologie des Nationalsozialismus fort» (309). Es ist schwer zu sagen, was mehr befremdet, diese haltlose Gegensatzbildung als solche oder der Umstand, dass ein deutscher Theologieprofessor ernsthaft glaubt, Schweizer Feministinnen die Fortsetzung des Nationalsozialismus vorwerfen zu dürfen. Eine solche Verunglimpfung hat auch nichts mehr mit einer kritischen Reflexion feministischer Übertreibungen zu tun. Kurioserweise verdammt Huntemann hier eine feministische Bewegung und feministische Theologie, in der es noch gar nicht die heutigen Einflüsse von Gender- und Queer-Theorie gegeben hat. Huntemanns Vorwurf lautet, «dass der Feminismus auf die Kanzel will» (310). Für die damalige FETA war die entschiedene Ablehnung der Frauenordination noch selbstverständlich. Heute ist das auch in Schweizer Freikirchen eine Minderheitenmeinung. Um so unverständlicher ist es m.E., wie Sierszyn einen solchen Auftritt als Teil einer positiven Erneuerung der EKVZ beschreiben kann. Es könnte aus heutiger Sicht gute Gründe auch für viele Schweizer Pietisten gegeben haben, sich gegen fundamentalistische Tendenzen in den eigenen Reihen zu wehren.
Unsichtbare Pluralität der Gegenwartsgesellschaft
Die Beschreibung der heutigen, modernen Gesellschaft, vor allem nach den kulturellen Umbrüchen der 1960er Jahren, ist durchweg negativ und frei von allen Ambivalenzen. «Überall brechen die gleichen Konflikte zwischen biblischem Glauben und dem säkularen Glaubensgut der Neuen Linken auf.» (298)
Die Schilderung der 68er Umbrüche entspricht einer polarisierten Logik, wie sie sonst nur im Umfeld der neuen Rechten üblich ist. Die Gegenwart erscheint oft wie ein permanenter Kulturkampf, in dem eindeutige Lager gegeneinanderstehen.
Dabei gerät völlig aus dem Blick, was Soziologen für die jüngere Entwicklungen als wesentlich hervorheben: zunehmende soziale Differenzierung und gesellschaftliche Pluralisierung. Die moderne Schweiz ist ausserhalb konservativ-christlicher Kreise bei weitem keine linksliberale oder gar -extreme Kommune geworden, genauso wenig wie andere europäische Nachbarländer. In unserer Zeit gibt es eine Vielfalt von höchst unterschiedlichen Milieus und Strömungen, progressive, linksalternative, traditionelle und mit wachsendem Erfolg auch alt- und neurechte. Konservative, herkunftsorientierte Milieus gibt es in grosser Vielfalt, sowohl bei der angestammten Bevölkerung wie auch bei vielen Migrations-Communities.
Auch hier macht es das Paradigma einer dualistischen Konfrontation von Christentum und säkularistischem Verfall unmöglich, die Vielfalt der heutigen Schweizer Gesellschaft auch nur wahrzunehmen.
Überschätzung der Theologie
Für all diese Entwicklungen gilt dem Verfasser die Moderne Theologie und insbesondere die Historisch-kritische Bibelauslegung als Ursprung allen Übels. Viele Menschen in der Reformierten Kirche und ebenso ich selbst teilen die Überzeugung, dass die Kirche ohne Hören und Aneignung der biblischen Schriften keine überzeugende Botschaft zu vermitteln hat. Entgegen ständiger Behauptung des Gegenteils ist das auch in der universitären Bibelwissenschaft Konsens und Voraussetzung der gesamten Arbeit. Für das 20. Jahrhundert legt Sierszyn den Massstab einer kategorischen Ablehnung der historisch-kritischen Methode und ein Festhalten an der Verbindlichkeit klassisch-kirchlicher Bekenntnisse an. Nur: Einem solchen Massstab hätten auch sehr viele pietistische Menschen des 18. und 19. Jahrhunderts nicht genügt. Sierszyn selbst weist darauf hin, dass die «Helden» der Zeit um 1900, Lavater, Hess und Gessner, keineswegs unberührt von aufgeklärtem Einfluss waren. In einem heutigen bekenntnisevangelikalen Milieu hätten sie mit Sicherheit nicht als bibeltreu anerkannt werden können. Darum sind sie in diesen Kreisen oft auch völlig unbekannt. Der Einfluss der akademischen Theologie auf die Entwicklung der Gesellschaft wird insgesamt viel zu hoch angesetzt.
3. Trotzdem: Leseempfehlung!
So sehr ich das Buch in einem für mich erschreckendem Masse von einer Kulturkampf-Perspektive durchzogen halte, empfehle ich es abschliessend trotzdem ausdrücklich zur gründlichen Lektüre, wenn auch bisweilen gegen den Strich, und zwar allen, denen die Entwicklung der Kirche und der christlichen Landschaft in der Schweiz am Herzen liegt.
Sierszyns Buch ist für den Kanton Zürich und weit darüber hinaus ein unverzichtbares Standardwerk, wenn man das ganze Spektrum des hiesigen Christentums kennenlernen will.
Denn es macht Strömungen der Schweizer Kirchen sichtbar, die vielen anders geprägten Mitgliedern der Reformierten Kirche oft nur wenig oder wenn, dann sehr verkürzt vor Augen steht.
Die besondere kirchengeschichtliche Leistung besteht darin, die Geschichte einer Frömmigkeitsbewegung über mehrere Generationen nachzuzeichnen, vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Diese Kontinuität erweist sich zum einen auf der Ebene persönlicher Netzwerke. Familienbande und Briefkontakte wurden in der jüngeren Forschung intensiv erschlossen, was von Sierszyn hilfreich ausgewertet wird. Zum anderen zeigt sich diese Kontinuität auch auf institutioneller Ebene, konkret der Evangelischen Gesellschaft und der Evangelisch-kirchlichen Vereinigungen. Die Verknüpfung von Netzwerkperspektive und Institutionengeschichte macht die kirchenhistorische Stärke dieser Studie aus.
Das Buch wird hoffentlich für alle, die sich zum heutigen Pietismus zählen, eine Standardlektüre werden. Sie finden hier Zugang zu ihrer eigenen Glaubensgeschichte, inklusive ihrer Wandlungen. Echte Konservative wissen, dass die Treue zum eigenen Glauben immer nur in einer inneren Kontinuität im Wandel angesichts immer neuer Herausforderungen bestehen kann.
Lesenswert ist dieses Buch aber auch für alle, die in der Kirche tätig oder an ihr interessiert sind und mit der Geschichte pietistisch-evangelikaler Strömungen wenig vertraut sind. Zugleich dürfte die Darstellung für nichtpietistische Menschen auch eine Zumutung sein. Denn diese Christinnen und Christen werden die knappen Darstellungen ihrer eigenen Geschichte überwiegend als grob verzerrt oder klischeehaft empfinden. Das ist sicher sehr bedauerlich. Es ist zugleich aber auch ein Zeichen dafür, wie tief die Entfremdung unterschiedlicher Frömmigkeitsprägungen im Laufe der Zeit vielfach geworden ist. Grosses Gewicht legt Sierszyn auf pietistische Erfahrungen von Ausgrenzung und Verächtlichmachung. Und ja, jeder Mensch, der eine Zeit lang als Pietist oder Evangelikaler gelebt hat, kennt das Gefühl, von anderen, sich aufgeklärt gebenden Gläubigen herablassend oder manchmal auch verächtlich angesehen und behandelt zu werden.
Nicht übersehen sollte man, dass auch dieses Buch vielschichtiger ist als das, was ich zuletzt an ihm kritisiert habe. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Spannungen zwischen pietistischen und anderen Strömungen in der Kirche nicht selten an sexualethischen Fragen festgemacht. Vor allem der Umgang mit gleichgeschlechtlicher Liebe wurde vielfach zu einem spaltenden Thema. So berichtet Sierszyn von einem schwul-lesbischen Chorfestival, dessen Abschluss im Jahr 1993 im Grossmünster stattgefunden habe. Die noch junge Evangelisch-kirchliche Fraktion protestierte damals lautstark gegen eine solche Veranstaltung. Es ist sehr bemerkenswert, wie Sierszyn dieses Ereignis im Rückblick einordnet. «Homosexuelle Menschen wurden lange genug erniedrigt. Es ist christlich, sie im Leben als gleichwertige Brüder und Schwestern anzuerkennen. Insofern ist der Protest der EKF heikel und auch Missverständnissen ausgesetzt.» (328) Sierszyn spricht sich nicht für eine vorbehaltlose Anerkennung oder gar Segnung queerer Beziehungen aus. Aber er sagt immerhin: «Der intensive Wunsch jahrhundertelang Geächteter nach Anerkennung ist berechtigt und verdient Sympathie. Dieses Faktum allein ist es wert, in einem Gottesdienst gefeiert zu werden.» (328) Solche Töne gab es in der pietistisch-evangelikalen Szene vor 30 Jahren noch nicht; und auch heute sind sie längst nicht die Regel. Auch der Pietismus steht im Wandel der Zeit und ist vielfältiger, als er in der Regel von innen und aussen dargestellt wird.
[1] Vgl. meine eigene, auf Deutschland und die USA konzentrierte Gesamtsicht der Evangelikalen Bewegung: Thorsten Dietz: Menschen mit Mission. Eine Landkarte der evangelikalen Bewegung. 2022.
[2] Im 21. Jahrhundert hat sich das Profil und das Auftreten der STH verändert. Eine heutige Einschätzung der STH wird wesentlich berücksichtigen müssen, wie man sich dort inzwischen selbst zum fundamentalistischen Denken der ersten Jahrzehnte verhält.
[3] Armin Sierszyn: 2000 Jahre Kirchengeschichte. Die Neuzeit. Band 4, Holzgerlingen 2000, 414.