Grosszügiger Liberalismus

Die historische Kirchenkunde der Reformierten Kirche im Kanton Zürich von Gotthard und Konrad Schmid. Von Thorsten Dietz

1. Ein ungewöhnliches Buch

Das von Gotthard und Konrad Schmid verfasste Werk „Die Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich. Eine historische Kirchenkunde“ ist ein höchst ungewöhnliches Buch. Im Grundriss handelt es sich um die Kirchenkunde des Zürcher Pfarrers Gotthard Schmid, die dieser 1954 veröffentlichte. Zugleich ist das Buch dieses Vertreters eines theologischen Liberalismus grundlegend überarbeitet worden – von Konrad Schmid, Professor für Altes Testament an der Theologischen Fakultät Zürich und Enkel von Gotthard Schmid.

Wie schon die Originalausgabe, so gibt auch die Neuauflage einen ausführlichen Überblick zur Geschichte der Reformierten Kirche im Kanton Zürich: Zum Aufbau der Kirche und den Grundzügen ihres kirchlichen Lebens, zur Entwicklung ihrer Theologie sowie zu ihrem Wirken in der Gesellschaft.

Das Buch von 1954 war in zweifacher Hinsicht überarbeitungsbedürftig. Zum einen wurde das Buch ergänzt um die geschichtlichen Entwicklungen und Neuerungen der letzten 70 Jahre. Zum anderen sind einige Perspektiven des bisherigen Werkes verändert oder auch schlicht gestrichen worden.

Konrad Schmid weist im Vorwort oder auch im Podcast Stammtisch auf die Aspekte hin, bei denen es den grössten Veränderungsbedarf gab: Z.B. die Wahrnehmung der römisch-katholischen Kirche und die Sicht auf die Rolle der Frauen.

Reformiert und Katholisch als Gegensätze

Im Erscheinungsjahr der Erstauflage 1954 konnte sich noch niemand ein Zweites Vatikanisches Konzil der Katholischen Kirche vorstellen. Papst Pius XII. hatte wenige Jahre zuvor die leibliche Aufnahme Marias in den Himmel, analog zur Himmelfahrt Jesu, als notwendig anzunehmende Glaubenswahrheit dogmatisiert, kraft der Unfehlbarkeit, die Pius IX. 1870 dekretiert hatte.

Entsprechend fungiert die Römisch-katholische Kirche in der Erstauflage als ständiges Gegenbild zur Reformierten Kirche. Reformierte und Katholische Kirche ruhen auf „völlig gegensätzlichen Fundamenten“ (Schmid 1954, 305), was sich nicht zuletzt im Verhältnis zum modernen Verfassungsstaat zeige. „Das reformierte Denken brachte (…) einen wesentlichen Beitrag zum Werden des modernen, liberalen, demokratischen Staates. Die katholische Kirche dagegen hält daran fest, dass ihr Recht über allem staatlichen Recht steht.“ (Ebd.) Und der liberale Protestantismus identifiziert sich offensichtlich mit der modernen Demokratie, im Gegenteil zum Katholizismus, wenn es heisst: „Zwischen der katholischen Kirche mit ihrem Totalitätsanspruch und dem liberalen Rechtsstaat mit seinem Willen zur Freiheit des Glaubens und des Gewissens bestehen innere Spannungen, die sich nie völlig beheben lassen.“ (Ebd.)

Was man heute Kulturkampf nennen würde, war damals normal.

Nur zehn Jahre später bekannte sich das zweite Vatikanum im Bruch mit der bisherigen Geschichte des Katholizismus zum Prinzip der Religionsfreiheit. Die Zeiten haben sich geändert.

Dienst der Frauen in aller Stille?

Das gilt auch für die Geschlechterverhältnisse. 1954 gab es noch keine ordinierten Pfarrerinnen in der Zürcher Reformierten Kirche. Gotthard Schmid macht deutlich, dass die Frau schon in der Bibel eine zunehmende Aufwertung und Anerkennung erfahre. Er berichtet, wie die Zürcher Synode ab 1916 über die Gleichberechtigung der Frau auch im kirchlichen Dienst nachgedacht hatte. Bereits 1919 waren mit Elise Pfister und Rosa Gutknecht zwei Frauen nach absolvierten Theologiestudium in den Gemeindedienst übernommen worden. 1923 überlegten die Gemeinden, die bislang als Vikarinnen angestellten Frauen mit dem Pfarramt zu betrauen. Damals jedoch hatte der Zürcher Regierungsrat die Anerkennung einer solchen Wahl abgelehnt. Volkskirchlichkeit bedeutete damals eben auch, dass es in der Kirche nicht mehr Gleichheit geben konnte und durfte als in den weltlichen Ordnungen.

Offensichtlich konnte sich Gotthard Schmid eine weitere Entwicklung zu mehr Gleichberechtigung in der Kirche vorstellen. Aber als dringlich empfand er diese Frage nicht. Man solle nicht „missachten, in welchem Masse die Frau sich schon innerhalb der bisherigen Ordnungen in unserer Kirche betätigte. (…) In aller Stille kommt vielen Frauen in unserem Volk entscheidende Kraft für ihr Leben durch ihre Verbundenheit mit der christlichen Gemeinde und der Kirche zu.“ (Schmid 1954, 213)

Angesichts dieser offensichtlichen Verschiebungen der Zeit könnte man fragen:

Warum wurde dieses Buch dann nicht doch lieber gänzlich neu geschrieben?

Warum hat sich Konrad Schmid einer solchen Mühe unterzogen, so dass es in der Neuauflage keine Seite ohne Veränderungen gibt?

2. Grosszügiger Liberalismus

Von den oben erwähnten Selbstverständlichkeiten der 1950er Jahre abgesehen, ist der Grundriss des Buches überraschend gut gealtert.

Die Kirchenkunde zeichnet ein Bild der Reformierten Kirche, das vielfältig und profiliert zugleich ist.

Zum einen ist die Reformierte Kirche eine „Kirche des Evangeliums.“ (Schmid 2023, 18) Alles in ihr ist bezogen auf das Evangelium von Jesus Christus, die gute Botschaft von Gottes Liebe zu jedem einzelnen Menschen und zur Menschheit insgesamt. Weil es um alle Menschen geht, kann sich die Kirche nicht in einem gesellschaftlichen Winkel einrichten. Zum anderen ist die Kirche daher notwendig Landeskirche, Kirche im Volk und für das ganze Volk.

Dieser doppelte Charakter der Kirche, als Kirche des Evangeliums und als Volkskirche, zieht sich durch das ganze Buch. Die Verwurzelung im Evangelium und die Offenheit für alle machen Grund und Horizont der Kirche aus. 

Der amerikanische Bibelwissenschaftler und Niebuhr-Schüler Hans Frei (1922-88) formulierte einst das Programmwort einer „generous orthodoxy“. Mit einer solchen grosszügigen Orthodoxie war eine Theologie gemeint, die sich den grundlegenden Weichenstellungen der Kirchengeschichte verpflichtet weiss und gleichzeitig Raum lässt für unterschiedliche Ausprägungen der gemeinsamen Grundlagen in der Gegenwart.

Analog dazu verkörpert das Buch von Gotthard und Konrad Schmid sowohl in seiner Grundgestalt als auch in der überarbeiteten Version eine Art grosszügigen Liberalismus. Es gelingt ihm, eine profilierte und zugleich integrative Sicht der Kirche zu vermitteln.

Reformatorische Grundlagen

Die Kirchenkunde ist keine Kirchengeschichte. Und doch ist der Aufriss so gestaltet, dass viele grosse Themen im Durchgang durch die Geschichte besprochen werden. Was im Abschnitt „Strömungen und Bewegungen in der Zürcher Kirche“ (Schmid 2023, 363-372) kompakt zu greifen ist, findet sich in vielen thematischen Abhandlungen, zur Kirchgemeinde und ihrem Aufbau, zum Gottesdienst und seinen Elementen, zu den Kasualien der Kirche und ihrer Diakonie etc. Stets erinnert das Buch an wichtige biblische Grundlagen, würdigt die reformatorischen Weichenstellungen des 16. Jahrhunderts und erklärt die gegenwärtige Gestalt der Kirche aus den Entwicklungen der letzten Jahrhunderte.

Die reformatorischen Anfänge unter Zwingli prägen den Grundriss der Kirche bis heute. Die damalige Wiederentdeckung des biblischen Evangeliums ist das entscheidende Erbe der Kirche bis heute.

Die Wertschätzung der Bibel, die Verkündigung des Wortes Gottes für die Gegenwart, eine nüchterne Alltagsfrömmigkeit und eine hilfsbereite Hinwendung zur Welt – all das war und ist typisch für die Reformierte Kirche, vom 16. bis zum 20. bzw. 21. Jahrhundert.

Am kritischsten ist die Sicht des konfessionellen Zeitalters (spätes 16. bis frühes 18. Jahrhundert). „Der aus der Zwinglianischen Reformation entstandene Glaubensstaat und erst recht das aus ihm sich entwickelnde Staatskirchentum verwirklichte die Einheit von Staatsvolk und reformiertem Kirchenvolk.“ (Schmid 2023, 379)

Historisch ist es verständlich, dass sich viele in den Religionskriegen und Umwälzungen der Zeit nach einer gemeinschaftsstiftenden und ordnenden Macht sehnten. Die Orthodoxie habe mit Recht betont, dass der Glaube das ganze Leben betrifft und entsprechend ein allumfassendes „Welt- und Lebensverständnis“ (Schmid 2023, 364) zur Verfügung gestellt. Aber die Grenzen dieser Zeit werden deutlich markiert. Der Zwangscharakter vieler damaliger Regelungen wird deutlich wie die mit Strafbussen belegte Nötigung zum Gottesdienstbesuch bis ins 18. Jahrhundert (Schmid 2023, 57). „Schliesslich wurde die Abwendung von der reformierten Kirche mit dem Entzug des Bürgerrechts bestraft.“ (Schmid 2023, 379)

Deutlich mehr Sympathie finden die Neuaufbrüche ab dem 18. Jahrhundert. Der Pietismus hat in Zürich weniger starke Auswirkungen gehabt als anderswo, aber gleichwohl markante Spuren hinterlassen, wie jüngst von Armin Sierszyn herausgearbeitet wurde. Auch Schmid würdigt seinen Beitrag für eine Erneuerung der Frömmigkeit, für einen stärkeren Lebensbezug der Predigten und eine Rehabilitierung des Gefühls und des ergriffenen Herzens (Schmid 2023, 85). Im Vergleich mit der Orthodoxie verfiel der Pietismus teilweise der entgegengesetzten Gefährdung: Der Abwendung von der Welt und der Unfähigkeit, mit den Entwicklungen von Bildung und Kultur in Verbindung zu bleiben. (Schmid, 2023, 366)

Moderne Erneuerungen

Die Aufklärung des 18. und der Liberalismus des 19. Jahrhunderts hätten die Reformierte Kirche entscheidend geprägt, und damit das Erbe der Reformation unter veränderten Zeitumständen neu zur Geltung gebracht.

Vor allem das 19. Jahrhundert ist nach dem 16. Jahrhundert ein zweiter Höhepunkt, in dem die Zürcher Kirche Profil gewinnt. Der kirchliche Liberalismus entsteht zeitgleich mit dem gesellschaftlichen. Folgenreich war vor allem die Infragestellung der lehrgesetzlich gehandhabten Bekenntnisse der Alten Kirche und vor allem der Reformationszeit.

Der Liberalismus „befreite die Kirche von der Not des Bekenntniszwangs“ (Schmid, 2023, 366)

Bis heute sei dieses Erbe grundlegend und verpflichtend. «Dieses freiheitliche Verständnis des christlichen Glaubens hat die äusseren Formen des Lebens der reformierten Landeskirche geprägt, und mit diesem Freiheitsgedanken vertritt das freie Christentum ein urprotestantisches Anliegen“. (Schmid 2023, 367)

Im zwanzigsten Jahrhundert kommen weitere Prägungen hinzu, wie die religiös-sozialen Impulse und die Wort-Gottes-Theologie von Karl Barth und Emil Brunner. Beides wird als berechtigt und notwendig gewürdigt. Vermisst habe ich eine vergleichbare Anerkennung der Feministischen Theologie ab den 1970er und 1980er Jahren.

3. Kirchliche Vielfalt

Gotthard Schmid war inmitten all dieser Einflüsse nicht neutral. Er stand eindeutig in der Tradition der liberalen Theologie. Sein grosszügiger Liberalismus wusste sich dabei stets in erster Linie dem Evangelium verpflichtet – und weniger dem Allgemeinbegriff der Religion. Von einer solchen Warte aus gelingt ihm eine faire Würdigung auch der anderen Stränge seiner Kirche.

Das ganze Buch zeugt von einer Liebe zur ganzen Kirche, und nicht nur zur eigenen kirchlichen Richtung.

In seiner Zeit, und diese Deutung hat Konrad Schmid auch 2023 stehen lassen, sei die Kirche von drei Grundrichtungen bestimmt: Den Positiven, den Liberalen und den Religiös-Sozialen. Sie alle stellen eine „besondere Prägung christlichen Glaubens und Lebens dar.“ (Schmid 2023, 371). Die Positiven mit ihrer Betonung der Bibel erinnern an den theologischen Grund und den geistlichen Auftrag der Kirche. Auch die Dialektische Theologe des 20. Jahrhundert habe es vermocht, an reformatorische Überzeugungen anzuschliessen im Widerspruch zu einem einseitig gewordenen Fortschrittsglauben der Moderne.

Die Liberalen haben stets darauf geachtet, dass die Kirche sich den wissenschaftlichen und kulturellen Entwicklungen der Zeit nicht verschliesst. Die Religiös-Sozialen haben zurecht die sozialen Nöte der Moderne als Herausforderung der Kirche benannt.

Durchwegs lebt die Darstellung von der Überzeugung, dass die verschiedenen Strömungen einander ergänzen müssen. Es sei gut, dass sie sich in unterschiedlichen Gruppierungen verbinden und ihre Anliegen klar und eindeutig zur Sprache bringen. Keine Richtung könne jedoch beanspruchen, für die ganze Kirche zu stehen.

„Wie sich das Licht in einem Prisma in viele Farben bricht, so erschliesst sich das Evangelium jeder Zeit und jeder Generation neu.“ (Schmid 2023, 371)

4. Kirche für alle – mit immer weniger Menschen

Die Kirche des Evangeliums als Landeskirche bzw. Volkskirche des Kantons Zürich – diese Doppelbestimmung wirft natürlich auch Fragen auf. Stellt diese so grundsätzliche Bindung an Land und Volk nicht die Bindung an das Evangelium in Frage? Geht es nicht darum, Gemeinde Jesu, und nicht Kirche eines Kantons zu sein? Die potenzielle Spannung dieser beiden Bezeichnungen wird von Anfang an bewusst gemacht (Schmid 2023, 29.)

Entscheidend ist, dass zum Glauben an das Evangelium auch die Einsicht gehört, dass keine irdische Verwirklichung von Kirche als volle Verwirklichung ihrer geistlichen Bestimmung gelten kann. Es gehört zur geschichtlichen Gründung der Reformierten Kirche, dass sie vom Rat der Stadt auf den Zürcher Disputationen 1523 entschieden und in engem Austausch von Bürgerschaft und Pfarrschaft entwickelt worden ist.

Die Reformierte Kirche sieht sich nicht als Heilsanstalt, die von der Welt strikt unterschieden ist und ihr gegenübersteht.

Diese Offenheit ist nicht pragmatisch, sondern geistlich motiviert. In Abgrenzung zu Freikirchen heisst es: Die Reformierte Kirche „verzichtet darauf, zwischen Gläubigen und Ungläubigen zu scheiden. Sie scheut davor nicht aus mangelndem Mut, sondern deshalb, weil es nicht den Menschen zukommt, über den Glauben zu richten.“ (Schmid 2023, 420)

Wo der universale Charakter der Verpflichtung auf das Evangelium ernstgenommen wird, da muss das gesamte gesellschaftliche Leben auch als der Ort erkannt werden, in dem das Evangelium Halt und Orientierung gibt.

Aufgaben einer Kirche für alle

Diesen Geist atmen auch die Erweiterungen durch Konrad Schmid. Ihren volkskirchlichen Charakter hat die Kirche im Aufbau immer neuer Arbeitsfelder zum Ausdruck gebracht. Im gänzlich neu verfassten Kapitel 3 (Schmid 2023, 227-254) gibt Konrad Schmid einen präzisen wie konzentrierten Überblick zu den Arbeitsgebieten der Reformierten Kirche der Gegenwart:

Die vielfältigen Aufgaben der gesamtkirchlichen Dienste in der Spital- und Notfallseelsorge sowie in der Begleitung von Polizei und Migrationskirchen werden ebenso beschrieben wie die Zentren im Flughafen und im Bahnhof, der Arbeit an der Hochschule und in den Mittelschulen, die Bildungsarbeit für Erwachsene, die Unterstützung von öffentlicher Kommunikation und Publikation.

Die Kirche folgt mit ihren gesamtkirchlichen Diensten der Ausdifferenzierung der Gesellschaft insgesamt. Gerade wenn die Kirche eine Kirche für alle sein will, kann sie dies nicht mehr nur in der Form einer Gemeindekirche sein. Denn in sehr vielen Lebensbereichen findet das Leben der Menschen heute nicht mehr nur vor Ort statt, sondern in unterschiedlichen Sektoren der Gesellschaft mit ihrer jeweiligen Komplexität. Nur in dieser Vielfalt ist sie auch in der Lage, für Staat und Gesellschaft in ihrer Ausdifferenzierung kompetente Gesprächs- und Kooperationspartnerin zu sein.

Angewiesenheit auf Anerkennung und Unterstützung

An dieser Stelle wird jedoch auch ein Problem deutlich. Die Reformierte Kirche ist nicht nur stark auf die Gesellschaft bezogen; sie versteht sich als Teil der Gesellschaft. Aus Sicht der Reformierten Kirche ist die Kantonsgeschichte immer schon auch Kirchengeschichte. Umgekehrt gilt dies immer weniger. Auf der Buchrückseite heisst es:

„Wer Zürich verstehen will, muss auch seine protestantische Kirche verstehen.“ Genau das versteht sich aber für immer weniger Menschen von selbst.

Konrad Schmid weist darauf hin, dass auch sein Grossvater eine solche Entwicklung geahnt haben mag. Damals war die Mehrheit der Kantonsbevölkerung Kirchenmitglied, aber staatskirchliche Verhältnisse gehörten auch vor 70 Jahren schon einer fernen Vergangenheit an. Konrad Schmid teilt die Überzeugung, dass der volkskirchliche Charakter der Kirche keine Frage der zahlenmässigen Entwicklung der Mitgliedschaft sein kann, sondern eine Frage der theologischen Überzeugung und des geschichtlich gewachsenen Profils ist.

Die gegenwärtige und nicht zuletzt auch künftige Minderheitenrolle im Kanton wirft Fragen auf:

Wie bleibt man Kirche für alle – mit immer weniger Menschen? Wie lässt sich das Profil einer Minderheitenkirche stärken ohne Flucht aus der Geschichte der Landeskirche? Wie kann die Reformierte Kirche Heimat werden für Menschen, die weder im Kanton Zürich geboren sind noch auch mit dem Stil dieser Kirche in Kindheit und Jugend vertraut gemacht wurden?

Konrad Schmid stimmt am Ende nachdenkliche Töne an. Lange Zeit sah sich die Kirche zuständig, dem Volk Orientierung zu geben, zur Not auch mit Zwangsmitteln. Heute sind wir in einer anderen Situation. Nicht die Religion, im weitesten Sinne als Frage nach Sinn, schwinde gegenwärtig, wohl aber der Sinn für die institutionelle Pflege und die reflektierte Verantwortung der Religion.

Die Landeskirche stehe für eine „jahrhundertelange Traditionsrationalität“ (Schmid 2023, 377). Religion werde nicht verschwinden, aber nicht jede Form der Religion sei eine Bereicherung.

„Wird Religion in den kommenden Jahren und Jahrzehnten noch dem kritischen Denken verpflichtet sein oder nicht? Ungepflegte Religion ist einfach zu haben, doch es gehört zum Privileg aufgeklärter Gesellschaften, ihre Religion zu pflegen.“ (Schmid 2023, 378)

Bei schrumpfenden Ressourcen dürfte die Kirche je länger je mehr auch angewiesen sein auf Anerkennung und Unterstützung von Seiten der Gesellschaft.

Die zunehmende Minderheitensituation und vor allem die Auseinanderentwicklung in der gegenseitigen Wahrnehmung von Kirche und Gesellschaft ist eine grosse Herausforderung. Sie zu lösen, wird man nicht auch noch von einer historischen Kirchenkunde erwarten.

5. Pflichtlektüre

Für alle, die in der Reformierten Kirche in irgendeiner Weise tätig sind oder gar Verantwortung ausüben, ist dieses Buch eine Pflichtlektüre.

Was dieses Buch in seinem Grundriss stiftet, ist eine bis heute einnehmende Story, ein Verständnis von Kirche, das bei aller Weite und Gegenwartsbezogenheit einen klaren Grund und Auftrag bestimmt. Mit diesem Fokus auf Bestimmtheit und Freiheit zugleich ist diese historische Kirchenkunde auch für eine Phase erheblicher Umformungen ein guter Kompass für die Reformierte Kirche.

Literatur:

Gotthard Schmid, Konrad Schmid: Die Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich. Eine historische Kirchenkunde. Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2023.

Gotthard Schmid: Die Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich. Eine Kirchenkunde für unsere Gemeindeglieder. Zürich: Schulthess und Co. AG 1954.