1. Spiritualität – Was ist das?
Spiritualität ist ein schillerndes Wort. Es weckt Neugierde, manchmal Sehnsucht. Auch die diesjährigen, sehr gut besuchten Kappeler Kirchentagungen sind ein Beispiel dafür. Zugleich wird das Wort auch oft unscharf verwendet. Was meinen wir, wenn wir von Spiritualität reden?
Es gibt keine einheitliche Definition von Spiritualität, auf die sich alle einigen können. Praktisch aber lassen sich die unterschiedlichen Verständnisse von Spiritualität auf zwei Grundformen zurückführen (vgl. Peng-Keller 2014; ausführlicher auch hier.): a) ein klassisch christliches Verständnis und b) ein modern-individualistisches Verständnis.
a) Das klassisch-christliche Verständnis
Spiritualität wird als Praxis und Vertiefung der eigenen Religion verstanden. Sie ist dabei durchgehend geprägt von den Inhalten und Überzeugungen der jeweiligen Religionsgemeinschaft.
Schon seit altkirchlicher Zeit kann man Wortbildungen im Sinne eines geistlichen Lebens beobachten, in Anlehnung an paulinische Ausführungen zum Leben im Geist (Gal 5,25). Das Wort «spiritualité» taucht im französischsprachigen Raum seit dem 17. Jahrhundert auf. Dort steht es im Kontext katholischer Ordenskultur für eine intensive christliche Gestaltung des Lebens aus dem Glauben heraus. Im 20. Jahrhundert setzt sich das Wort Spiritualität auch im Protestantismus durch.
In diesem Sinne definiert auch die Zürcher Kirchenordnung: «Spiritualität als Lebensgestaltung aus dem Glauben.» (Art 70,3)
Die Spiritualität christlicher Klöster und Ordensgemeinschaften erwies sich seitdem immer wieder als anregend auch für sogenannte Laien. Feste Gebetszeiten, regelmäßiges Bibellesen, die Orientierung an geistlichen Zielen und Werten ist für manche, «hochreligiös» genannte Menschen, bis in unsere Zeit anregend und faszinierend (vgl. exemplarisch Peng-Keller 2010).
b) Das modern-individualistische Verständnis
Auf der anderen Seite lässt sich in der angelsächsischen Sprachwelt im 19. Jahrhundert die Entstehung eines anderen Gebrauchs des Wortes beobachten, mit deutlicher Bedeutungsverschiebung. «Spirituality» bzw. Spiritualität wird unterschieden von Religion bzw. Religiosität. Anders als die durch Traditionen und Institutionen geprägte Religion, steht Spiritualität in dieser Sichtweise für eine freiheitliche Form der Suche nach Lebenssinn und Selbstverwirklichung.
Nicht wenige Menschen verstehen sich als spirituell – und nicht als religiös (vgl. Stolz u.a. 2022). Für sie ist das Streben nach persönlicher Entfaltung für das gesundheitliche Wohlbefinden zentral. Religiöse Motive der klassischen Religionen können Verwendung finden, sofern sie individuell auf dem eigenen Weg einleuchten. (vgl. exemplarisch Marti 2019)
c) Keine unnötigen Gegensätze
Kann man das so einfach aufteilen? Ist Religion die historisch gewachsene, oft sozial strikt geordnete Praxis des Glaubens, Spiritualität aber etwas allgemein Menschliches, eine universale Erfahrung des inneren Wachstums?
Ein solcher Gegensatz ist arg vereinfacht. Heutige Formen von freier Spiritualität bedienen sich vielfältig aus der reichen Überlieferung der historischen Religionen. Wer sich im Namen der Spiritualität von Religion abgrenzt, verwendet nicht selten klischeehafte Vorstellungen von Religion und Kirche, die schon lange nicht mehr stimmen. Für die evangelischen Kirchen, zumal die Reformierte Kirche, ist eine selbstbestimmte, individuelle Form des Glaubens schon seit Generationen selbstverständlich (vgl. Zimmerling 2003, Dahlgrün 2018).
Geistige Freiheit und kulturelle Offenheit sind für Mitglieder der reformierten Kirche in der Regel so normal wie der Einsatz für den Schutz der Schwachen oder die Offenheit für die geistig-kulturelle Entwicklung der Gesellschaft. Das gilt auch für reformierte Spiritualität.
Es gehört zum Wesen der christlichen Religion, dass sie im Wandel ist. Traditionelle Formen des Glaubens können ihre Bindungskraft verlieren, neue Formen entstehen. Hat das nicht zuletzt die Reformation eindrücklich gezeigt?
2. Reformierte Spiritualität
Auf dieser Tagung fragen wir bewusst auch als Reformierte Kirche und für unsere Gemeinden: Wie kann eine heutige Spiritualität aussehen? Welche Angebote gibt es bei uns? Was können wir jetzt schon im eigenen Umfeld entdecken?
Dazu gehört auch die Frage: Was passt zur Reformierten Kirche und ihrer Tradition? Wie können wir Altes bewahren und Neues entdecken in einer Weise, die auch zu unserer bisherigen Geschichte und Prägung passt?
a) Sinnenfeindlichkeit der reformierten Spiritualität?
Die Reformation war eine spirituelle Revolution. In ganz Europa begann sie mit einer Kritik an vielen religiösen Übungen und Praktiken, die der Kirche heilig waren: Fastenbräuche, Bilderverehrung, Anrufung der Heiligen, Pilgern etc.
Vor allem im reformierten Strang der Reformation wurde diesen Formen der Frömmigkeit häufig ein Ende gesetzt. Das biblische Bilderverbot und die Betonung, dass es keiner menschlichen Vermittlungsinstanzen in der Gottesbeziehung bedarf, wurden entschieden umgesetzt.
Aus Sicht des Alten Glaubens war die Reformation eine Dekonstruktionsbewegung, eine radikale Zerstörung klassisch christlicher Frömmigkeit. Die Abkehr von der Marienfrömmigkeit, vom Rosenkranz, die Ignoranz gegenüber den Heiligen und ihren Feiertagen, all das erschien den Altgläubigen der damaligen Zeit wie eine Abkehr vom wahren Christentum.
Für die Reformatoren war die Predigt, die Verkündigung des Wortes Gottes, das zentrale Medium der Frömmigkeit (vgl. Lorenz 2018). Der vermeintliche Abbau der Spiritualität war bei näherem Hinsehen vor allem eine grosse Konzentration. Im Wort allein begegnen wir Gott verbindlich. Gottes Wort befreit, es bindet nicht an unzählige Frömmigkeitsübungen. Diese Konzentration wurde als Gegensatz zu anderen spirituellen Wegen betont, aber letztlich nur da, wo diese eine Heiligkeit beanspruchten, die Gott allein zusteht.
Die reformierte Spiritualität wird in der Regel mit Eigenschaften wie nüchtern, karg, schlicht oder auch dürftig beschrieben. All diese Worte finden sich in der jüngst neu aufgelegten Kirchenkunde von Gotthard und Konrad Schmid (Schmid 2023, 52; 197). Dieses einfache Wesen sei «nicht zufällig. Es erwächst aus Demut» (Schmid 2023, 52). «Weil Gott, dem Heiligen Gott, allein Ehre gebührt, kennt die Zürcher Kirche weder heilige Zeichen noch heilige Orte oder Zeiten.» (Schmid 2023, 197)
Ist die reformierte Tradition von ihrem ganzen Wesen her karg und sinnesfeindlich? Solche Zuschreibungen sind immer problematisch. Im konkreten Fall lässt sich das leicht entkräften.
Die Reformation in Zürich begann nicht damit, dass ein hagerer Mönch einen langen Text an die Tür einer Kirche nagelte. Sie begann in geselliger Runde, in der man demonstrativ «deftig» sündigte. Mit Wurst. Am 9. März 1522 kam es zum Zürcher Wurstessen an einem Freitag, gerade weil es von der Kirche verboten war. Eine solche Gängelung des Gewissens fanden die Zürcher Gläubigen um Zwingli unerträglich.
b) Freiheit der reformierten Spiritualität
Reformierte Frömmigkeit ist nicht an sich sinnesfeindlich. Sie kritisierte aber die überragende Bedeutung von Bildern als etwas, was das Zentrum des Glaubens verdunkele. Heinrich Bullinger, der zweite Zürcher Reformator nach Zwingli, hatte betont: Gebräuche sind da problematisch, wo sie durch ihren Zwangscharakter der christlichen Freiheit entgegenstehen. «Reformierte stehen allen Ausdrucksformen gläubigen und kirchlichen Lebens in Freiheit gegenüber.» (Schmid 2023, 198) Diese Freiheit gilt natürlich auch umgekehrt: Wo Formen und Wege dem Glauben dienen, darf man sie auch in aller Freiheit annehmen.
In diesem Sinne sind wir auch hier zusammen: Frühere Formen der Spiritualität sind im 20. Jahrhundert zunehmend ausser Übung gekommen. Man kann das beklagen und als Traditionsabbruch bedauern. Wir wollen es anders halten. Wir nehmen ernst, dass das nichts Neues ist.
Wir befinden uns heute in einer Umbruchphase. Wir sehen, dass klassische Formen der Frömmigkeit bis hin zum Gottesdienstbesuch heute viele nicht mehr erreichen. Unsere Suche nach heutigen Formen der Spiritualität auf refdate.ch hat deutlich gemacht: In reformierten Gemeinden und bei reformierten Gläubigen sind heute meditative und kontemplative Formen der Spiritualität weit verbreitet. Taizé-Lieder und -Gottesdienste, Pilgern, überhaupt körperbetonte Formen der Spiritualität sind heute nicht nur häufig, sie dominieren eindeutig die Beiträge, die uns erreicht haben.
Ist diese Übernahme von Formen, die in früheren Jahrzehnten als katholisch verstanden worden wären, ein Widerspruch zum Profil der Reformierten Kirche? Nein.
In dieser Offenheit für neue Frömmigkeitsgestalten zeigt sich die Bereitschaft, keine Form – und auch keinen Verzicht auf Formen – absolut zu setzen.
Vielmehr ist diese grössere Offenheit heutiger reformierter Spiritualität Ausdruck ihrer Freiheit und Wandlungsfähigkeit.
3. Vertraut, neu, fremd
Nun stehen unsere Kirchentage unter einem besonderen Motto: Vertraut, neu, fremd. Darum wollen wir uns mit diesen drei Aspekten noch einmal näher beschäftigen.
a) Vertrautheit Pflegen
Beginnen wir mit der Naheliegenden: Welche Bedeutung hat das Stichwort der «Vertrautheit» im Kontext der Spiritualität?
In vielen Formen der Spiritualität spielt Vertrautheit eine große Rolle, sei es mit Gott, sei es mit Liedern und Gebeten, mit Atem- und Meditationsübungen oder mit dem Ablauf des Gottesdienstes. Vertrautheit ist eine urmenschliche Sehnsucht. Kein Lebewesen ist nach seiner Geburt so hoffnungslos überfordert wie der Mensch. Anders als die meisten anderen Lebewesen, werden Menschen nicht mit Instinkten geboren, die ihnen ein sofortiges oder zumindest baldiges Überleben sichern.
Für uns Menschen ist die Welt schlechthin neu, fremd und überfordernd. Lebensfähig werden wir insofern, als uns Eltern, Familie und andere zugewandte Menschen Geborgenheit geben. Niemand wächst ins Leben hinein, ohne Schutz, Anerkennung und Unterstützung zu erfahren.
Vertrautheit aufzubauen ist daher eine Lebensherausforderung. Schon in der Antike sprach man vom notwendigen Aufbau einer grundlegenden Selbst- und Weltvertrautheit als Basis eines jeden gelingenden Lebens (vgl. Fuchs 2015, 106f.). Es gibt kein gelingendes Leben, in dem Menschen sich nicht so oder so in Verhältnisse setzen, die Vertrautheit ermöglichen.
Die Erfahrung von Vertrautheit ist für nicht wenige der Herzschlag ihrer Frömmigkeit. Das kann sich im regelmäßigen Besuch des Gottesdienstes zeigen. Oder im Unser Vater, das manche Menschen zu Beginn oder am Ende eines jeden Tages sprechen. Vertrautheit zeigt sich in Ritualen, die nicht begründet werden müssen, die selbstverständlich das Leben begleiten und durchziehen.
Was immer auch in einem Jahr passiert sein mag, an Neuem, teils Schrecklichem: Am Ende des Jahres ist Weihnachten. Im Kerzenschein und vor der Krippe, beim Singen vertrauter Lieder und im Weihnachtsgottesdienst zeigt sich eine Kontinuität, die trotz allem alle Generationen verbindet.
Das Kirchengebäude selbst ist für viele so ein Anker. Der Ort, an dem man wichtige Feiern der Familie erlebt hat. Das Kloster Kappel ist für unsere Kirche ein solcher Ort, an dem Glaube gelebt wird seit vielen Jahrhunderten. Vertrautheit ist mit dem Symbol der Wurzeln verbunden. Vielen Menschen ist das bis heute wichtig. Ihr Glaube lebt davon, in wiederkehrenden Ritualen und Gebräuchen in der Vertrautheit mit Gott und dem christlichen Glauben zu wachsen.
Was leisten solche Zeiten und Orte der Vertrautheit? Sie geben Halt im oft unübersichtlichen Alltag. Sie stellen die Kraft der immer gleichen Worte und Vollzüge gegen den permanenten Wandel. Sie helfen uns, inneren Frieden zu finden und alles Grübeln loszulassen.
Ja, das Motiv der Vertrautheit kann einseitig werden, da, wo es ausgrenzend absolut gesetzt wird. Darum geht es uns an diesem Wochenende nicht. Aber es gibt in unserer Zeit eine Krise des Selbstverständlichen. Die Welt wächst ins Unüberschaubare. Wir erfahren immer mehr. Die Fülle der Möglichkeiten lässt kaum noch Raum für das Regelmässige.
Die bewusste Pflege des Vertrauten sollte niemand gering schätzen, trotz aller Notwendigkeit von Veränderung und Innovation.
Für nicht wenige dürfte es eine Aufgabe sein, Vertrautes nicht zu verlieren bzw. einst Vertrautes wieder aufzugreifen, weil es doch nicht so ganz von allein geschieht.
b) Neues Entdecken
Auch das Neue und seine Entdeckung gehören zum Menschen. Menschen sind Entdecker, Erfinderinnen, Grenzüberschreitende. Wir haben vorhin gesehen, dass wir nichts lernen ohne Vertrauensbeziehungen. Wo Menschen Vertrautheit erfahren, da sind sie auch offen für Neues. Singt dem Herrn ein neues Lied, heisst es mehrfach in den Psalmen (Ps 96,1; 98,1). Jede Generation bringt Neues hervor.
Es gab geschichtliche Zeiten, in denen die Einführung der Kinder in bestimmte Formen und Weisen ein Fundament für ein ganzes Leben schuf. Bis heute gibt es Menschen, die für eine solche kindliche Prägung dankbar sind. Es gibt aber auch nicht wenige, die sich im Laufe ihres Lebens von Prägungen befreit haben. Teilweise reagieren sie bis heute allergisch auf Dinge, die einst kein Angebot, sondern eine Pflicht waren.
Menschen finden neue Wege der Spiritualität. Sie entdecken, dass man mit Gott auf mehr als auf einer Frequenz verbunden sein kann. Religion bzw. Spiritualität sind nichts Statisches.
- Manchmal liegt es daran, dass sich die Menschen verändern. Viele Menschen machen die Erfahrung, dass eine bestimmte Form der Frömmigkeit, die sie als Kinder gelernt haben, irgendwann nicht mehr trägt. Einst erworbene Formen des Glaubens mögen zu stark mit dem Eindruck verbunden sein, dass manches in früheren Prägungen einengend oder manipulativ war.
- Manchmal liegt es auch daran, dass sich die Lebensumstände verändert haben. Eine Krise macht eine neue Lebensantwort nötig, auch auf dem Gebiet des Glaubens. Manchmal haben sich durch eine veränderte Lebenssituation auch schlicht neue Bedürfnisse ergeben.
Bei unserer Umfrage nach heutigen Formen der Spiritualität hat sich gezeigt, dass vor allem Kontemplation, Naturfrömmigkeit und Körperübungen heute mit grosser Selbstverständlichkeit zu den Angeboten vieler Reformierter Kirchengemeinden gehören.
Woran mag das liegen? Klassisch-reformierte Spiritualität lebte sehr stark von der Konzentration auf das Wort Gottes. Gott selbst sollte zu Wort kommen, nicht menschliche Fantasien. Dieses Anliegen konnte jedoch auch dazu führen, dass Glaube Kopfsache wurde. In einem Informationszeitalter, in dem viele von uns schon aus beruflichen Gründen viel lesen und hören, ist das gesprochene Wort nicht mehr das Besondere, das den Gottesdienst zu etwas ganz anderem macht als es der Arbeitsalltag der Woche ist.
Bei diesen neuen Formen der Spiritualität handelt es sich nicht selten um Neuentdeckungen in der christlichen Tradition. Schweigen und Körperübungen reichen bis in biblische Zeiten zurück. Klösterliche Frömmigkeitsformen waren im Prostestantismus lange verpönt und werden heute neu entdeckt.
Es gibt aber auch echte, und ich würde sagen; notwendige Neuerungen ganzer Generationen. In den letzten 150 Jahren hat sich das Verhältnis der Geschlechter nachhaltig geändert. Vor allem seit den 1960er Jahren haben sich feministische und emanzipatorische Einsichten in breiten Schichten der Gesellschaft durchgesetzt.
Aus heutiger Sicht ist die kirchliche Sprache stark männerlastig. Gott wird als Herr und Vater angerufen, die Kirche als «Gemeinde von Brüdern» bezeichnet. Eine solche Sprache bietet vielen keine geistliche Heimat mehr.
Viele Frauen finden sich nicht mehr ab mit den Zuschreibungen weiblicher Fürsorge und der klassisch mütterlichen Konzentration auf Haus und Familie. Feministische Theologinnen haben unsere Sprache enorm bereichert durch die Einsicht, dass Gott kein Mann ist und sie auch nicht ausschliesslich mit «ER» bezeichnet werden muss. Weil «Geist» im Griechischen und Hebräischen kein Wort im Maskulinum, sondern Femininum und Neutrum ist, reden viele lieber von Heiliger Geistkraft oder von der Ruach.
Gebetssprache wird vielfältiger, Frömmigkeit sinnlicher und Gottesdienste gemeinschaftlicher. Ja, manche fühlen sich durch solche neuen Entwicklungen in ihrer vertrauten Frömmigkeit gestört. Aber viele finden ohne neue Sprache keinen Zugang mehr zu alten Wahrheiten.
Ähnliche Veränderungen ergeben sich im Verhältnis zu anderen Religionen. Dass man diese in früheren Zeiten ausschliesslich für Lüge und Wahn halten konnte, passt schlecht zur Menschenfreundlichkeit, die das Neue Testament im Auftreten Jesu nachzeichnet. Der Blick in die Bibel zeigt, dass die Treue zum einen Gott stets zur Abgrenzung von Ungerechtigkeit und Unterdrückung führte, oft aber auch mit der Offenheit verbunden war, Anregungen aus der religiösen Umwelt aufzugreifen. Weder das Weihnachtsfest noch die Ostereiersuche sind bekanntlich biblisch. Auch reformierte Gläubige sehen die Spiritualität anderer Religionen heute mit sehr viel mehr Offenheit und Neugierde als früher.
Die Zeiten haben sich geändert und sie dürften sich weiter ändern. Und so manches, was heute nicht mehr zeitgemäss wirkt, mag in künftigen Zeiten seine Renaissance erleben. Die Entdeckung von Neuem sollte uns nicht dazu verführen, Altes pauschal abzuschreiben.
c) Fremdheit Zulassen
Man könnte sagen: Das ist für knapp einen Tag ein ausreichendes Programm, Vertrautes pflegen, Neues entdecken. So wie nach Mt 13,52 auch ein Jünger des Himmelreiches stets Neues und Altes aus seiner Schatzkammer hervorholen soll.
Ist das mit der Fremdheit nicht zu viel? Oder einfach überflüssig? Denn faktisch gehört es ja zum Neuen, das uns nur das zu einer Entdeckung werden kann, was uns fremd ist – und dann lernen wir es kennen und schätzen und dann ist aus dem Fremden etwas Neues geworden, mit dem wir uns vertraut machen.
Der Umgang mit Fremdem im Sinne des Anderen, bei dem es Menschen nicht gelingt, es sich vertraut zu machen, ist eine der grossen Herausforderungen der Gegenwart: Das Fremde, das trotz Mühe befremdend bleibt, von dem man sich nicht angezogen, sondern abgestossen fühlt.
Anscheinend gehört zum Leben ein gewisses Mass an Abstossung. Es ist heute wichtig, darüber zu reden. Die Abstossung des Fremden zieht sich durch die Geschichte. Die Reformation hat das im grossen Stil mit der katholischen Frömmigkeit getan. In den letzten Jahrhunderten wurde die Frömmigkeit anderer Religionen von vielen in diesem Sinne als fremd erfahren. Inzwischen gibt es beides. Manche Christinnen und Christen fühlen sich von Yoga und Zen fasziniert. Anderen bleibt so etwas fremd.
Nicht zuletzt leben wir längst in Zeiten, wo grossen Teilen vor allem der städtischen Bevölkerung Kirche und Christentum schlechthin fremd geworden sind. Wir selbst wirken mit unserem Glauben auf manche Zeitgenossen befremdlich, teilweise abstossend.
Es geht an dieser Stelle nicht darum, dass es so etwas nicht geben kann oder darf. Es ist eine wichtige Erfahrung, selbst zu spüren, «Das ist mir fremd, das befremdet mich. Es ist für mich keine Ergänzung und keine Entdeckung. Es irritiert, ja verstört mich.» Zugleich kommen wir aus einer Geschichte, wo die Abstossung des Fremden viel Schaden gestiftet hat. Angst vor dem Fremden hat immer wieder zu Feindseligkeit geführt und tut es noch.
Es gibt heute breit geführte Diskussionen darüber, wie viel Fremdes wir aushalten können, wie homogen die Gesellschaft, die Kirche oder die Gemeinde sein müssen, damit Zusammenleben noch gelingen kann. Das Problem dieser Debatten ist, wie leicht dabei das Fremde zum Bedrohlichen wird. Der ängstliche Blick macht aus Fremden Feinden.
Die biblischen Texte leiten zu einem anderen Umgang mit Fremdheit an. Es ist eine der grossen Innovationen des biblischen Glaubens, Fremde als Nächste sehen zu lehren. Dieser neue Blick auf Fremdheit ist nicht naiv. Selbstverständlich wissen die biblischen Texte um die Möglichkeiten des Schädlichen, ja Feindseligen. Aber sie überlassen dieser Möglichkeit nicht den Vorrang. «Wenn möglich, soweit es in eurer Macht steht: Haltet Frieden mit allen Menschen!“ (Röm 12.18)
Daraus können wir auch für den Umgang mit Vielfalt in der Reformierten Kirche lernen. Zur Reformierten Kirche heute gehört ein breites Spektrum von Frömmigkeitsformen. In unserer eigenen Kirche dürften die meisten Menschen Dinge finden, die sie regelrecht befremden.
Es kann nicht das Ziel sein, dass uns nichts fremd bleiben darf, dass man alles probieren muss, sich alles aneignen kann. Man muss nicht alles mögen, man sollte aber möglichst viel ertragen können. Weil wir mit Menschen verbunden bleiben können, auch wenn sie selbst Halt und Vertrautheit finden in Worten und Weisen, die uns befremden.
4. Kirche der verbundenen Vielfalt
Als Volkskirche ist es uns wichtig, eine Kirche für alle zu sein: Kirche, die den Menschen in ihrer Vielfalt nahe ist. Daher ist es kein Wunder, dass wir selbst als Kirche auch vielfältig sind, nicht zuletzt in unserer Spiritualität. Und das ist gut so.
Nur eine vielfältige Kirche kann glaubwürdig offen sein für alle Menschen in ihrer Verschiedenheit. Wo Gottes bunte Gnade (1Petr. 4,10) gefeiert wird, sollte es keinen Einheitsbrei geben.
Kirche in Vielfalt ist auch eine Herausforderung. Die Reformierte Kirche ist immer auch eine generationsübergreifende Kirche. Vieles, was wir heute normal finden, hätten unsere Grosseltern als höchst befremdlich empfunden. Und umgekehrt. Die Vielfalt der Generationen, der Frömmigkeitsformen, der Milieus und Regionen, all das ist unser Reichtum. Wirklich vielfältig (und nicht profillos) sind wir da, wo wir diese Vielfalt bewusst wahrnehmen, wertschätzen und immer neue Verbundenheit miteinander stiften. Denn es ist die befreiende Kraft des Evangeliums, von der wir uns alle in unserer Verschiedenheit getragen wissen.
Vertraut, neu und fremd: Gemeinsam wollen wir an diesem Wochenende auf die Suche gehen. Alte Schätze heben, Neues entdecken und vielleicht auch unsere eigenen Grenzen kennenlernen. Dass wir es im Vertrauen auf Gott gemeinsam tun, darüber nachdenken und uns dabei austauschen, ist typisch reformiert.
Literatur
Corinna Dahlgrün (2018): Christliche Spiritualität. Formen und Traditionen der Suche nach Gott, Berlin/Boston: De Gruyter.
Thomas Fuchs (2015): Vertrautheit und Vertrauen als Grundlagen der Lebenswelt. In: Phänomenologische Forschungen, 101-118.
Samuel Lutz (2018): Ulrich Zwinglis Spiritualität. Ein Beispiel reformierter Frömmigkeit. Zürich: TVZ.
Lorenz Marti (2019): Türen auf. Spiritualität für freie Geister. Freiburg: Herder Verlag.
Simon Peng-Keller (2010): Einführung in die Theologie der Spiritualität, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Simon Peng-Keller (2014): Zur Herkunft des Spiritualitätsbegriffs Begriffs- und spiritualitätsgeschichtliche Erkundungen mit Blick auf das Selbstverständnis von Spiritual Care. Spiritual Care 3 (2014/1), 36-47.
Jörg Stolz u.a. (Hg.) (2022): Religionstrends in der Schweiz. Religion, Spiritualität und Säkularität im gesellschaftlichen Wandel, Wiesbaden: Springer VS.
Peter Zimmerling (2003): Evangelische Spiritualität, Wurzeln und Zugänge, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Gotthard Schmid, Konrad Schmid (2023): Die Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich. Eine historische Kirchenkunde. Zürich: TVZ.