Warum trifft Taylor Swift den Nerv unserer Zeit?

Ein Beitrag zum Dossier Zeitgeist. Von Thorsten Dietz

Warum sie? So fragen viele. Singt Taylor Swift denn so gut wie Whitney Houston oder tanzt wie Michael Jackson? Wo ist ihr Song, den alle kennen? Warum ausgerechnet sie?

Eine «Heilige der Authentizität»

Man kann es analytisch versuchen und sagen: Sie ist die perfekte Künstlerin für ein Zeitalter der Authentizität, wie Charles Taylor es diagnostizierte. Sie ist geradezu eine «Heilige der Authentizität» (Janna Horstmann). Merkmal ihrer Kunst ist die konsequente Verarbeitung ihrer Lebenserfahrungen. Mit Taylor Swift durchqueren wir die Klaviatur von Liebesglück und Liebesleiden, von Heartbreak-Drama bis feminine rage. Und lernen, dass auch der tiefste Schmerz zu überleben ist und übelste Nachrede abgeschüttelt werden kann (Shake it off). Authentisch leiden und sich trotz allem fröhlich selbst behaupten, das macht sie in Zeiten fragilen Selbstvertrauens zu der Freundin, die jeder gerne hätte, wie Kirstine Fratz es so schön formuliert hat.

Erweckungen

Ich gehöre zu den spät erweckten Bewunderern ihrer Kunst. Lange war ich einer von denen, die ein paar Lieder von ihr echt schön fanden, und gut war`s damit. Dass da mehr ist, dass da ein Gesamtkunstwerk unserer Zeit entsteht, habe ich erst im letzten Jahr gemerkt. Meine Erweckung kam, wie sollte es anders sein, bei einer Bridge (Nein, nicht Cruel Summer). Es war die Bridge der 10-Minuten-Version von All too well, ein Heartbreak-Song, der nicht nur durch seine Länge heraussticht. Bei diesen Zeilen war es um mich geschehen:

“And you call me up again / just to break me like a promise / so casually cruel in the name of being honest. / I`m crumpled up piece of paper lying here / `Cause I remember it all, all, all too well.

Nein, ich kenne eine solche Erfahrung nicht «all too well». Aber es ist das Wunder der Sprache, menschliche Erfahrungen so schmerzlich präzise verdichten zu können, dass sie auch die anrühren, die sie nicht gemacht haben. Und es ist mehr als die Sprache: sie singt es in einer Mischung aus Pathos und Kontrolle, Leidenschaft und Reflexion, die atemberaubend ist.

Beim ersten Hören dieser Bridge stelle ich den Song auf Wiederholfunktion und wurde in der nächsten Stunde schrittweise transportiert von «Das hat was» über «Das trifft ins Herz» zu «Oh mein Gott, jetzt bin ich Fan».

Ihre Texte machen Erfahrungen sagbar, die einst erlebt wurden und zu denen man im Medium der Kunst noch einmal neuen und befreienden Zugang findet. Unter ihren YouTube-Videos kann man beobachten, für wie viele sich hier Worte finden, die das eigene Leben aufschliessen.

Kunst als wahrhaftig inszenierte Authentizität   

Dabei muss man keine Sekunde darüber reden, dass diese Authentizität hochgradig inszeniert ist. Aber natürlich ist sie das, wie alles, was mehr ist als ein Schmerzensschrei. Wir können nicht nicht-inszenieren. Natürlich ist alles, was wir sehen und hören, Show, Kunst, Performance; genauso wie jeder Schritt und jede Geste in ihren Konzerten.

So konzentriert zu inszenieren und damit Momente erlebter Authentizität bei ihren Hörer:innen freizusetzen, darin liegt gerade ihre spezifische Genialität.

Wie kann ein Mensch, für den das Wort Superstar eine Verharmlosung darstellt, dieses Gefühl von Nähe, von «Sie-ist-eine-wie-ich» herstellen? Es dürfte die Kraft gelebter Vulnerabilität sein, die ihre besondere Magie entfaltet. Bei der Veröffentlichung ihrer neuen Songs schrieb sie:

»This writer is of the firm belief that our tears become holy in the form of ink on a page. Once we have spoken our saddest story, we can be free of it.”

Gemeinschaft durch Hingabe

Und es gelingt ihr, diese Erfahrung bei ihren Hörer:innen zu einer gemeinsamen zu machen. Und das ist kein Zufall. Ihre Kunst durchsetzt sie mit einem dichten Geflecht von Querverweisen. Wer Zeit investiert, macht immer neue Entdeckungen, welche Songzeile welches Thema von älteren Liedern fortführt, welches Kleid sie wo getragen hat und was darum das neueste Video wirklich bedeutet etc. Unter der leicht zugänglichen Oberfläche zeigt sich ein höchst anspruchsvolles Gesamtgefüge, das zu entdecken einiges an Zeit und Hingabe erfordert.

Und was lieben Fans mehr, als Gelegenheiten zur Hingabe? Nur was viel kostet, ist viel wert. Und nur so entsteht auch Verbundenheitsgefühl zu allen anderen auf diesem Pfad.

Und bei manchen Menschen trifft sie eben auch einen Nerv der Widerstandslust, ihr jede Huldigung zu verweigern. Manchmal entlarven sich so die Missgünstigen und Disharmonischen, denen die Gabe der Bewunderung abgeht. Und manchmal passt es auch einfach nicht zur eigenen Lebensphase. Swifties würden sagen: Noch nicht, bis man den richtigen Song von ihr hört und endlich versteht… So oder so: Eine Gemeinschaft, zu der alle gehören, ist keine Gemeinschaft.

Ein Religionsersatz unserer Zeit?

Auch manche Religionspraktizierende tun sich bisweilen schwer mit dem Gönnen-Können. Schweigen wir von Idiotien à la «Sie könnte ein Hexe sein». Aber muss sich die Kirche jetzt schon so erniedrigen, dass sie Taylor-Swift-Gottesdienste feiert und Podcasts über sie produziert? Ist es ein Kult? Ein Religionsersatz unserer Zeit?

Ja, viele Menschen finden bei ihr, was man früher religiösen Erfahrungen zugeschrieben hätte: Lebensdeutung und Vergemeinschaftung. Getrösteter Schmerz, erlöste Freude und enthusiastische Feiern des Lebens.

Nichts daran ist schlecht. Alles daran ist wertvoll. Gute Religion weiss, dass Gott die Melodie gelingenden Lebens in allen Fasern des Universums zum Klingen bringen kann.

Theologie muss das nicht noch einmal solchen Deutungen unterwerfen, die irgendeinen verzweifelten Mehrwert darstellen sollen. Vielleicht sollte mensch es einfach geniessen (wem es gegeben ist) und lernen. Auch bei jeder relevanten Erfahrung von Gottesdienst ist es so:

  • Sie verstrickt uns in Geschichten, durch die unser Leben sinnvoller scheint als ohne sie.
  • Sie berührt uns durch jedes Zeugnis, das in der Tiefe persönlicher Existenz errungen wurde.
  • Sie erwächst aus der Kraft treffender Sprache und entfaltet ihren Klang in sinnlicher Fülle und Vielfalt.
  • Sie blüht in einer Gemeinschaft, die ihren Schatz hütet und keine Sekunde zögert, allen zu zeigen, was sie liebt.

That never goes out of style (Style).