In unserer Reihe „Religiöse Wandlungen der Gegenwart“ sind wir von der Krisendiagnose heutiger Religion und auch Spiritualität ausgegangen (Teil 1). Wer die heutige Situation verstehen will, muss sich mit der Realität der Säkularisierung in allen westlichen Ländern der Welt auseinandersetzen. Kaum jemand hat zu dieser Frage umfassendere Untersuchungen vorgelegt als der kanadische Sozialphilosoph Charles Taylor.
1. Das Rätsel der säkularen Welt
Was bedeutet es, dass wir in einem säkularen Zeitalter leben? Mit «wir» sind dabei zunächst einmal alle Menschen aus Ländern gemeint, die man im weitesten Sinne als westlich bezeichnet, von Island bis Italien, von Kanada bis Neuseeland, von den USA bis Uruguay. Von einem säkularen Zeitalter kann man sehr verkürzt da reden, wo es als normal bzw. zumindest unanstössig gilt, dass Menschen zu keiner Kirche gehören oder keine Religion praktizieren.
Vor wenigen Jahrhunderten und in vielen Ländern noch vor wenigen Jahrzehnten war es im heutigen Westen undenkbar, nicht an Gott zu glauben. Undenkbar, weil Glaube immer schon eine soziale Realität war, die alles durchdrang, den Wochen- und Jahresrhythmus, die Vorstellungen von Staat und Moral, die Praxis von Ehe und Familie. So ist es bis heute in vielen Ländern dieser Welt, in Afrika und Asien wohl der grossen Mehrheit.
Warum ist der Westen heute so säkular? Diese einfache Frage verführt offensichtlich zu vereinfachenden Antworten.
Manche sagen: Die Kirchen sind schuld, sie reden nicht mehr genug von Gott. Sie missionieren nicht mehr. Oder es heisst umgekehrt: Die Kirchen sind nicht mit der Zeit gegangen. Wenn sie ihre Verkündigung nur genug an die kulturellen Entwicklungen der Zeit anpassen würden, blieben die Menschen auch in der Kirche.
Erklärungen für die Säkularisierung lauten oft, die Kirche passe sich zu sehr bzw. nicht genug dem Zeitgeist an. Natürlich ist das alles Unsinn.
Überall gibt es christliche Gruppen, die sich als bibeltreu verstehen, vehement gegen den Zeitgeist kämpfen – und trotzdem keinen grossen Erfolg haben. Ebenso gibt es viele Kirchen, die so weit wie möglich auf der Höhe ihrer Zeit sind – und trotzdem schrumpfen.
Charles Taylor geht es nicht um eine einfache Antwort. Die Situation ist das Ergebnis einer langen Geschichte und entsprechend komplex. Wer sich dem Verständnis komplexer Verhältnisse annähern will, muss zunächst einmal radikal vereinfachen. In einem ersten Schritt führen wir uns ein von Taylor entwickeltes Schema zur Stellung der Religion in der Gesellschaft vor Augen.
2. Die grossen Phasen der Religionsgeschichte
Zum 100. Jubiläum von William James` Buch Die Vielfalt religiöser Erfahrung (vgl. den 2. Teil der Reihe Religiöse Wandlungen der Gegenwart) hat Charles Taylor dessen Ansatz ausführlich in einer Vorlesungsreihe gewürdigt (Taylor 2002). James ist für Taylor ein zentraler Repräsentant moderner Religionswahrnehmung. Um seinen besonderen Beitrag einschätzen zu können, müsse man auf die Geschichte der Religionen zurückschauen. Dabei bezieht sich Taylor auf Emile Durkheim und seiner religionssoziologischen Theorie.
In seinem klassischen Werk Die elementaren Formen des religiösen Lebens von 1912 hatte Durkheim gezeigt, dass man Religion nicht zuerst über ihre dogmatischen Inhalte bestimmen könne. Ein Überblick über die Vielfalt der Religionen in ihrer geschichtlichen Entwicklung zeige, dass Religion nicht zuerst eine bestimmte Weise zu denken, sondern zu leben ist.
Religion ist eine Lebensform. Überzeugungen und Praktiken sind immer schon ineinander verwoben. Religion ist kein individuelles Phänomen, sondern eine wesentlich kollektive Angelegenheit. Religion lebt in Ritualen und Praktiken, in Gemeinschaftsformen, in Familie und Gruppe.
Taylor unterscheidet drei Stufen in der Entwicklung des Verhältnisses von Religion und Gesellschaft (James 2002, 67ff.).
a) Paläo-Durkheimische Gesellschaft
In den meisten alten Kulturen liegen Religion und Kultur unauflöslich ineinander. Man kann von einem Zeitalter der grossen Einbettung sprechen. Religion war ganzheitlich auf mehreren Ebenen.
- In der Religion war der Einzelne eingebettet in die Gemeinschaft.
- Die religiöse Gesellschaft war in ihre Umgebungsnatur, ja in den Kosmos eingebettet.
- Gemeinschaft und Kosmos sah man im Göttlichen verwurzelt.
Sämtliche Lebensbereiche sind religiös begründet und geprägt. Weil aus heutiger Sicht alles religiös geprägt ist, gibt es in der Binnenperspektive gar kein Konzept von Religion. Religion ist allgegenwärtig und unsichtbar zugleich. Es gab keine private Religion. Rituale, kultische Feiern, gemeinsame Erzählungen prägten die Gruppe. Zu diesem Gefüge der Einbettungen gehört wie selbstverständlich auch die Verbindung von Gedanken und Gefühlen mit leiblicher Praxis.
In diesem Zusammenhang prägt Taylor die Formulierung von einem porösen Selbst des paläo-durkheimischen Menschen (vgl. Taylor 2012, 58ff.). Der Mensch erlebt sich gegenüber der Realität des Religiösen durchweg als offen und berührbar. Gute und böse Geister mit ihren Einflüsterungen oder auch Verführungskünsten gehören wie selbstverständlich zur Erfahrungsrealität.
Religion ist keine Lehre vom Jenseits, sondern eine permanente Erfahrung des Diesseits (Vgl. auch Bellah 2020).
b) Neo-Durkheimische Gesellschaft
Als Religionsforscher hatte Durkheim historisch ältere Religionsformen ebenso vor Augen wie die religiös durchdrungene Lebensform indigener Gruppen. Durkheim zog von diesen Beobachtungen her Schlussfolgerungen für die Religion seiner Zeit am Ende des 19. Jahrhundert.
Diese lebte faktisch unter ganz anderen sozialen Bedingungen. Durch die Modernisierung hatte sich ein umfassender Prozess der „Entzauberung“ (Max Weber) des Lebens und der Kultur vollzogen. Die Verlaufsrichtung moderner Gesellschaftsentwicklung folgte dem Prinzip funktionaler Ausdifferenzierung. Verschiedene Lebensbereiche (Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft) gewannen zunehmend Selbstständigkeit und Eigenlogik. Die Religion war nun ein gesellschaftlicher Bereich neben anderen (und nicht mehr Grundlage und Fluidum des Ganzen) – darum konnte man von der Religion als Religion reden, anders als unter paläo-durkheimischen Bedingungen.
Zugleich haben die Religionen in vielen modernen Gesellschaften eine wichtige Bedeutung bewahrt. Ihre religiöse Lebensdeutung hat für weite Kreise der Gesellschaft Orientierungsfunktion behalten. Die früheren Staatskirchen in Europa und der große amerikanische Konsens über die christliche Fundierung der Nation haben die starke Stellung kirchlichen Christentums in der Gesellschaft zur Folge gehabt.
Im konfessionellen Europa nach der Reformation ist Religion nicht mehr fraglos und selbstverständlich. Aber innerhalb der Konfessionen besteht nach wie vor eine hohe Lebensprägung, bis in alle kulturellen Aspekte des Alltags hinein. Darum konnte Durkheim mit Recht betonen, dass christlicher Glaube nicht in der Zustimmung zu bestimmten Lehrsätzen aufgeht. Er ist immer noch eine umfassende Mentalität, in die man hinein sozialisiert wird und die den Alltag von der Familie über die Schulen bis hin in das öffentliche Leben stark bestimmt.
Diese Epoche haben die meisten Älteren noch selbst erlebt. In Europa gehört die Phase der volkskirchlichen Dominanz dazu. Noch 1970 gehörten über 90 % der Schweizerinnen und Schweizer zu einer der beiden grossen Kirchen. Es war noch normal, im Kanton Tessin katholisch und im Kanton Zürich reformiert zu sein. Es brauchte dafür keine Begründung oder gar Rechtfertigung.
Man gehörte zur Landeskirche so selbstverständlich wie die Kirchengebäude zum Stadtbild.
c) Post-Durkheimische Gesellschaft
Die bisher beschriebenen Formen neo- und paleo-durkheimischer Orientierung gibt es bis heute. Die Gesamttendenz gesellschaftlicher Entwicklung führt jedoch zu einer zunehmenden Abschwächung der neo-durkheimischen Situation. Taylor hält Wiliam James’ Studie „Die Vielfalt der religiösen Erfahrung“ (1901) für einen symptomatischen Ausdruck der neuen Tendenz: Religion wird zunehmend von Individualisierung und Erfahrungsorientierung bestimmt.
Man glaubt nicht mehr wie selbstverständlich. Man gehört nicht mehr zu einer Kirche, einfach weil es sich so gehört. Man ist religiös bzw. spirituell aufgrund eigener religiöser Erfahrung; und weil diese sich als hilfreich für das persönliche Leben bewährt.
Was ändert sich? In seinem opus magnum Ein säkulares Zeitalter (2012) hat Taylor diese Linie ausgezogen.
- Unselbstverständlichkeit der Religion. Die Verknüpfung mit der Gesamtkultur tritt zunehmend zurück. Es gibt keinen gesellschaftlichen Konsens mehr über die Rolle der Religion oder der Kirchen in der Gesellschaft. Gab es einmal eine Zeit, in der es unmöglich war, nicht religiös zu sein, so ist heute eine säkulare Lebensdeutung eine ernsthafte Option, die vielen sogar als unausweichlich erscheint.
- Immanenter Deutungsrahmen. Für viele gesellschaftliche Lebensbereiche ist ein immanenter Deutungsrahmen (Taylor 2012, 899ff.) selbstverständlich. Man denke an zwei besonders typisch moderne Gesellschaftsbereiche wie die empirische-rationale Logik der Wissenschaft oder die Nutzenorientierung marktwirtschaftlicher Ökonomien. Kein noch so religiöser Mensch kann heute ein Leben führen, in dem ihm nicht selbst das Leben und Handeln unter den Bedingungen selbstverständlicher Säkularität abverlangt wird.
- Exkludierender Humanismus. In vielen westlichen Gesellschaften gibt es eine starke, teilweise dominante Tendenz, Religion aus allen öffentlichen Zusammenhängen ausschliessen zu wollen. Nicht nur in der Begründung des Staates, der Ausformung des Rechts, der Gestaltung der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Bildungseinrichtungen. Eine solche Neutralität öffentlicher Instanzen ist nicht zuletzt von christlichen Minderheiten angestrebt worden. „Exclusive humanism“ (Taylor 2012, 379) bedeutet, Religion überhaupt auf die Privatsphäre der Individuen eingrenzen zu wollen, d.h.: Irrelevanz für politische Rechte, kaum Berücksichtigung in den öffentlichen Bildungseinrichtungen, wenig Platz in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Moral.
- Religiöse Pluralität. Noch gibt es in vielen Ländern dominante Kirchen – das gilt selbst für die meisten US-Bundesstaaten. Aber zunehmend setzt sich vor allem in den Städten eine Vielfalt konfessioneller und religiöser Kirchen und Gemeinschaften als neue Normalität durch. Besondere Vorrechte und Stellungen klassischer Kirchtürmer werden immer stärker rechtfertigungsbedürftig.
3. Glauben in einer säkularen Welt?!
Taylors Beschreibungen verschiedener Zeitalter sind wie so oft in den Sozialwissenschaften idealtypisch gemeint. Die Realität besteht aus vielen Überlappungen und Mischformen. Oft findet sich in derselben Gesellschaft Milieus mit Merkmalen aller drei Modelle. Und nicht selten überlappen sie sich auch in Individuen, die mit ihrer Familie und ihrem Berufsfeld ganz unterschiedlichen Welten angehören können. Folgende Aspekte sind für die Situation des Glaubens in einer säkularen Welt für alle christlichen Gruppierungen wichtig.
- Die Situation einer säkularen Welt ist ein historisches Novum. Es ist neu für die Katholische Kirche, die seit dem 4. Jahrhundert praktisch überall, wo sie zur Mehrheit wurde, eine katholisch dominierte Gesellschaftsform angestrebt und oft verwirklicht hat. War die hierarchische Struktur der Katholischen Kirche über viele Jahrhunderte hinweg nur eine Variante unter vielen hierarchischen Gesellschaftslogiken, so ist ihre Kirchenstruktur im Zeitalter westlicher Demokratien zunehmend eine Anomalie, an der Anstoss genommen wird, von innen und aussen.
- Diese Situation ist auch für die protestantischen Volkskirchen neu. Bei ihnen hat sich früher das Bewusstsein durchgesetzt, nicht mehr die Grundlage für alle gesellschaftlichen Bereiche sein zu können. Zugleich waren sie von ihrem Selbstverständnis her immer und überall mehr als ein Verein, in dem Individuen durch ein privates Interesse miteinander verbunden sind. Das Selbstverständnis der protestantischen Kirchen als Volkskirchen, als Partnerin des Staates die ihre Dienste allen anbietet, ist durch diese Entwicklungen stärker herausgefordert, als sie lange und oft auch heute noch wahrhaben wollten und wollen.
- Natürlich ist diese Entwicklung auch für alle Freikirchen und neureligiöse Bewegungen wichtig. Anders als die Volkskirche ist es für sie viel selbstverständlicher, keinen festen oder gar tragenden Platz im gesellschaftlichen Gefüge zu haben. Viele von ihnen leben mit dem selbstverständlichen Bewusstsein, eine Gruppe im Gegenüber zur „Welt“ oder zu Gesellschaft zu sein. Anders als sie glauben, hat ihre Situation nur sehr wenig zu tun mit der Lebensrealität der Urgemeinde und der frühen Christenheit. Die zutiefst durkheimische Situation der frühen Christenheit ist etwas völlig anderes als die Lage heutiger evangelikaler oder pentakostaler Gruppierungen. Entgegen ihrem Selbstverständnis als konservativ christlich, ist ihre Situation genauso modern wie die der Volkskirchen. in gewisser Hinsicht ist sogar keine Sozialform der Christenheit heute so modern und zeittypisch wie die freikirchliche bzw. wie der Sozialtyp der religiösen Bewegung. Zugleich macht bewusste Verortung ausserhalb des gesellschaftlichen Mainstreams so etwas wie Mission unendlich mühsam. So gut wie immer ist missionarisches Wachstum das Ergebnis innerevangelikaler Umverteilungen.
Alle christlichen Gruppen stehen vor der Frage, wie Glaube unter säkularen Bedingungen gelebt werden kann, individuell wie gemeinsam. Statt von Entbettung kann Taylor auch von „Exkarnation“ reden, quasi dem Gegenteil von Inkarnation. Exkarnation des Religiösen bedeutet in diesem Zusammenhang:
Glaube findet nicht mehr in Gemeinschaft statt, ist nicht mehr verwoben mit der Natur und dem Kosmos, ist abgespalten von allem Leiblichen, findet nur noch im Individuum statt, ganz privat und vor allem im Kopf. Solche Religion hält sich offenbar dort, wo Menschen noch eine religiöse Sozialisation erlebt haben. Nicht selten verdunstet sie mit der Zeit aber auch, vor allem in der Weitergabe an die nächste Generation.
Faktisch ist allen religiösen Erscheinungen heute ein Umformungsprozess abverlangt, der sie in eine Zeit führt, in der noch kein religiöser Mensch in der Menschheitsgeschichte je zuvor gewesen ist.
Was hat dazu geführt, dass wir heute in einer historisch unvergleichlichen Situation leben? Ist diese Entwicklung zwangsläufig? Führt sie auf mittlere Sicht gar zum Ende aller Religion, oder welche Zukunftsaussichten hat der Glaube in dieser Zeit? Diese Fragen werden uns in der Fortsetzung der Reihe „Religiöse Wandlungen in der Gegenwart“ beschäftigen.
Literatur
Charles Taylor: Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002.
Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter, Berlin: Suhrkamp 2012.
Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Berlin: Verlag der Weltreligionen 2007.
Robert N. Bellah: Der Ursprung der Religion. Vom Paläolithikum bis zur Achsenzeit. Hg. und mit einer Einführung von Hans Joas. Freiburg: Herder 2020.