Spiritualität boomt, heisst es häufig. Die Kirchen mögen Mitglieder verlieren, aber religiöse Such- und Sehnsuchtsbewegungen gehören einfach zum Wesen des Menschen. Wo traditionelle Glaubensinhalte und Mitgliedschaftsverhältnisse in der Krise stecken, da entstehen neue Formen der Religion oder der Spiritualität.
Die Vermessung der religiösen Landschaft
Die jüngsten empirischen Untersuchungen zur Lage von Religion und Spiritualität zeigen, dass man sich von dieser Erzählung endgültig verabschieden muss. Für alle, die sich an eine solche Sicht gewöhnt haben, sind die Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (6. KMU) ernüchternd eindeutig.
Säkularisierung findet statt. Und sie beschleunigt sich.
Menschen treten nicht nur aus der Kirche aus. Sie wenden sich auch vom Christentum ab, ja von den Religionen insgesamt. Nennenswerter Anschluss an freikirchliche oder alternativ-religiöse Gruppierungen ist empirisch nicht messbar. Auch alles, was man Spiritualität nennt, ist von dieser Krise betroffen.
Die Ergebnisse aus Deutschland sind keineswegs singulär. Die Entwicklungen in vielen westlichen Ländern wie z.B. der Schweiz sind ähnlich. Die jüngste Untersuchung zu Religionstrends in der Schweiz zeigt eine ganz ähnliche Tendenz. Die Zugehörigkeit zur Kirche und die Zustimmung zu klassisch-christlichen Gedanken schrumpfen mit jeder Generationenkohorte.
Streit um die richtige Deutung der Daten
Gleichzeitig mit der Veröffentlichung der Ergebnisse der 6. KMU gab es im Herbst 2023 eine öffentliche Auseinandersetzung um ihre Deutung. Der Religionssoziologe Detlef Pollack hat in einem Beitrag für die FAZ die These vertreten, dass die Untersuchungen als Widerlegung einer liberalen Religionstheologie gelten könnten. Auch der Berichtsband der 6. KMU vertritt in Ansätzen eine solche Haltung. Umgekehrt hat eine Reihe von Theolog:innen der Studie in der Zeitschrift Zeitzeichen vorgeworfen, mit einem zu engen, kirchenorientierten Religionsbegriff zu arbeiten. Wer Religiosität mit Abfragen misst, wie oft Menschen beten oder zur Kirche gehen bzw. inwiefern traditionelle kirchliche Glaubenssätze noch Zustimmung finden, ignoriert die vielfältigen Formen christlich-religiöser Haltungen, die es längst ausserhalb wie auch innerhalb der Kirchen gibt.
Diese Diskussion ist etwas erstaunlich, weil sie sich vor 10 Jahren schon so ähnlich abgespielt hat. Schon damals sprach man in der FAZ von einer «Erosion auf fast allen Ebenen«. Im Berichtsband für die 5. KMU von 2012 ist vieles von den heutigen Auseinandersetzungen schon vorweggenommen. Diese Diskussion hat Albrecht Grötzinger für Fokus Theologie bereits gewürdigt und diese Sicht bei Zeitzeichen noch einmal vertieft, so dass sie hier nicht noch einmal aufgegriffen werden muss.
Gibt es auch eine Krise der Spiritualität?
Empirische Untersuchungen zum Begriff der Spiritualität sind sehr stark davon abhängig, welche Praktiken und Haltungen als spirituell gelten. Wenn man darunter Phänomene fasst wie «Wahrsagen, Meditation, Yoga, Heilung durch Pflanzen, Steine oder Kristalle, das Durchführen esoterischer Rituale und das Interesse an Engeln» (Stolz 2022, 9), dann ist das Resultat der Umfragen deutlich.
In der deutschen Untersuchung zeigt sich: Formen alternativer Religion erleben nicht nur keinen Boom. Sie erfahren einen noch stärkeren Rückgang als die christlichen Kirchen.
«Nach diesen Befunden „boomt“ Spiritualität nicht, weder als Begriff noch als soziales Phänomen.» (6. KMU, 25)
Auch der Religionsmonitor von 2023 stellt fest:
«Eine ausgeprägte Spiritualität bleibt ein Minderheitenphänomen, das allerdings zur religiösen Pluralität in Deutschland beiträgt.» (Religionsmonitor 2023, 25)
Auch in der Schweiz ist klar, dass solche Formen einer «holistischen Spiritualität», wie es in dieser Untersuchung heisst, keineswegs die christliche Frömmigkeit ersetzen. «Es zeigt sich nämlich, dass holistische Spiritualität besonders eine Sache der zwischen 1951 und 1970 Geborenen ist.» (Stolz 2022, 21)
Zugleich fällt auf: In der jüngsten Generation, der seit 1980 Geborenen, gibt es einen erheblichen Anstieg, wenn man nach Yoga fragt (Stolz 2022, 20). Aber es ist schwer zu entscheiden, ob es dabei für die Beteiligten um Spiritualität, um Gesundheit oder Geselligkeit geht. Solche Phänomene der Grenzverwischung lassen sich empirisch nicht so gut abfragen und einordnen, dazu gleich noch einmal mehr.
Religion und Spiritualität im Wandel
Die Schweizer Studie weist jedoch auch auf eine andere Entwicklung hin. Ein nicht unerheblicher Teil der christlich-Gläubigen hat sich das Wort Spiritualität in den letzten Jahrzehnten positiv zu eigen gemacht, als Bezeichnung einer praktischen, erfahrungsorientierten und weniger dogmatischen Frömmigkeit. «Das Wort «religiös» wiederum ist nicht mehr im Trend, vor allem nicht bei den jüngeren Generationen, die es als veraltet ansehen und oft negativ konnotieren im Zusammenhang mit institutionalisierter, strenger, konservativer Tradition. Es ist also nicht mehr der Begriff «spirituell», der negativ besetzt ist, sondern eher der Begriff «religiös».» (Stolz 2022, 61)
Die Zeit, wo Menschen sich zur Kirche hielten, weil sich das so gehört, ist vorbei.
Auch in Deutschland ist das eines der gesichertsten Ergebnisse. Praktisch jede Form der Religiosität ist heute von den Bedingungen der Individualisierung und Pluralisierung bestimmt (6. KMU, 28-31).
Fakten, Fakten, Fakten?!
Wir können dankbar sein für die Vielfalt der heutigen Studien und Untersuchungen zur religiösen Situation unserer Zeit. Sie nötigen uns dazu, die Wirklichkeit nicht nach unseren Lieblingsideen zu konstruieren. Sie lehren uns, genau hinzusehen. Es gibt Fakten, die sich nicht ignorieren lassen. Wie viele Menschen Gottesdienste besuchen, christlichen Gedanken zustimmen oder alternativ-religiöse Praktiken betreiben, all das kann man gut messen. An solchen Daten vorbei sollte sich niemand die Welt passend machen.
Das gilt für Menschen aus allen religiösen Lagern. Es gibt laute Stimmen, die der Kirche vorwerfen, durch links-grüne politische Positionen die Menschen aus der Kirche zu treiben. Die 6. KMU hat sehr klar und deutlich gezeigt, dass die grosse Mehrheit der Menschen nicht aus der Kirche austritt, weil sie die Kirche zu politisch oder zu sozial findet. Eine überwältigende Mehrheit möchte ausdrücklich, dass sich Kirche für Geflüchtete einsetzt oder homosexuelle Menschen segnet, ausserhalb und innerhalb der Kirche (6. KMU, 54).
Es gibt auch die Meinung, dass die Kirche unbedingt flächendeckend persönlich vor Ort bleiben müsse, wenn sie die Menschen nicht verlieren will. Die 6. KMU zeigt – und das ist erstaunlich – dass die Pfarrpersonen vor Ort nach wie vor so bekannt sind wie in den früheren Jahrzehnten (6. KMU, 89). Und trotzdem sind die Austrittszahlen, und was viel dramatischer ist, die Austrittsbereitschaft, stark gestiegen.
Es wäre schön, wenn man auf allen Seiten die eigenen Deutungen und das entsprechende Bauchgefühl von den messbaren Ergebnissen korrigieren lassen würden.
Fakten sind unverzichtbar. Und zugleich zeigen sie nicht alles. Denn auch mit der grössten Sorgfalt kommen wir nicht darum herum, dass das, was wir abfragen und messen, stets abhängig von den Begriffen bleibt, die wir verwenden. Keine empirische Studie kann einfach die Realität abbilden.
Auch noch so objektive Ergebnisse sind abhängig von den Konzepten derer, die die Fragen stellen und ebenso von den Vorannahmen derer, die die Fragen beantworten.
Darum gehört zur Wahrnehmung der Daten immer auch das Ringen um ihre Interpretation. Denn jede Lagewahrnehmung ist nicht nur abhängig von unseren vorgängigen Deutungsmustern. Sie wirft auch stets neuen Interpretationsbedarf auf.
Übergänge
Die starken Verschiebungen im religiösen Feld sind interpretationsbedürftig. Was treibt Menschen aus den Kirchen? Was sind die Faktoren, die andere Menschen an Glaube und Kirche bindet? Woran liegt es, dass in Mitteleuropa so wenige erwachsene Menschen neu zum christlichen Glauben finden, auch nicht in missionarischen Freikirchen? Dass auch Erwachsene zum christlichen Glauben finden können, hat sich in der Kirchengeschichte vielfach gezeigt. In vielen Ländern der Welt wächst das Christentum auch durch Konversionen.
Was führt dazu, dass es in manchen Ländern sehr schwer zu sein scheint, als Erwachsener neuen Zugang zu Kirche und Religion zu finden?
Wenn Kirche Zukunft haben will und nicht nur Niedergang verwalten möchte, sollte sie sich für diese Fragen sehr viel mehr interessieren als bisher.
Zwischen- und Mehrzweckräume
Neben eindeutig messbaren Bewegungen gibt es heute auch Tendenzen, die für empirische Umfragen nicht so gut messbar sind. In ihrem Beitrag zum Phänomen der Interspiritualität weist Johanna Di Blasi darauf hin, dass wir längst in religiös unübersichtlichen Zeiten leben. Nicht wenige Menschen leben aus unterschiedlichen Quellen. Viele religiöse bzw. spirituelle Menschen empfinden unterschiedliche Religionen nicht mehr als Gegensätze. Letztlich waren Religionen immer schon «Mischphänomene». Die heute mögliche Kenntnis der grossen Weltreligionen macht es erst recht möglich, dass sich Menschen auf unterschiedliche Erfahrungsquellen einlassen können, ohne sich durch die Grenzziehungen religiöser Institutionen davon abhalten zu lassen. Faktisch entstehen immer mehr bi- oder multireligiöse Zwischenräume.
Hinzu kommt: Der Religionsbegriff ist historisch alles andere als eindeutig. Bei Massenphänomenen wie Yoga oder Qigong ist oft unklar, wo die Grenzen zwischen Religion, Sport und Gesundheitsvorsorge verlaufen. Ähnliche Grenzverwischungen kann es zwischen Religion und Kunst geben, teilweise auch Religion und Sport.
Vor allem eine Entwicklung sollte man nicht übersehen. Viele sich säkular verstehende Menschen äussern grosse Zustimmung zu den sozialdiakonischen Tätigkeiten der Kirche. Viele Menschen in der Kirche besuchen Gottesdienste genauso so selten wie ihre säkulare Zeitgenossen. Für sie ist das Streben nach Nächstenliebe und soziale Gerechtigkeit entscheidend, um sich selbst als christlich zu verstehen. Wie gehen wir mit dieser neuen Uneindeutigkeit um? Oder gehören diese Unschärfen im Übergang von Religion, Kultur und Moral schon immer dazu?
Neubauten
Zur religiösen Landschaft gehört auch die Entstehung von Neuem. Neues entsteht. Immer schon. In Kirche und Religion findet nicht einfach ein Abschmelzprozess statt, in dem viele sich verabschieden und eine schrumpfende Schar treu bei dem bleibt, was schon immer war. Tatsächlich ist der vermeintliche Bestand sehr dynamisch. Individualisierung ist das neue Normal. Alternative oder freie Spiritualität mag noch stärker schrumpfen als die Zugehörigkeit zu den Kirchen. Anscheinend aber spielt Spiritualität eine zunehmend grosse Rolle in den Kirchen.
In diesem Sinne bildet das Thema «Spiritualität» einen Schwerpunkt in den Legislaturzielen der Zürcher Kantonskirche. Von Ende Januar bis Mitte März finden die Kappeler Kirchentagungen 2024 statt und bilden bereits im Titel die Dynamisierung innerkirchlicher Spiritualität ab: Spirituell leben – vertraut | neu | fremd.
Wir fragten uns: Welche Formen von Spiritualität gibt es im Umfeld der Zürcher Kirche? Was findet längst in unseren Gemeinden statt? Und auf welche Trends müssen wir verstärkt reagieren? Welche Ausdrucksformen des christlichen Glaubens finden immer weniger Anklang? Und welche Formen religiös-spiritueller Sehnsucht müssten wir viel ernster nehmen? In der Kirche und darüber hinaus?
Orientierungsbedarf
Wer die eigene Zeit verstehen möchte, benötig Wahrnehmungshilfen. Die Veränderungen der religiösen Landschaft haben nicht erst in den letzten Jahrzehnten begonnen.
Mit der Aufklärung und der zunehmenden Modernisierung der Gesellschaft ist das Christentum insgesamt in eine gewaltige Umformungsepoche geraten, die vieles verändert hat und die traditionelle Gestalt von Kirche und Glaube nach wie vor herausfordert.
Seit langem haben Religionssoziologen diese Entwicklung beobachtet, und nicht zuletzt versucht, sie mit unterschiedlichen Deutungen zu interpretieren. Ich denke dabei an klassische Entwürfe, wie «Die Vielfalt religiöser Erfahrung» von William James oder «Ein säkulares Zeitalter» von Charles Taylor, aber auch an neuere Ansätze von Hans Joas über Religion als Selbsttranszendenz und Hartmut Rosa über Religion und Resonanz. Sie schärfen unseren Blick auf das, was heute in Bewegung ist.
Daher möchte ich in den kommenden Beiträgen zur Reihe «Religiöse Wandlungen in der Gegenwart» einige dieser Entwürfe als Wahrnehmungshilfen für Phänomene unserer Zeit vorstellen.
Literatur
Jörg Stolz u.a. (2022): Religionstrends in der Schweiz. Religion, Spiritualität und Säkularität im gesellschaftlichen Wandel, Wiesbaden: Springer.
Religionsmonitor 2023. Zusammenleben in religiöser Vielfalt. Warum Pluralität gestaltet werden muss, hg. von Bertelsmannstiftung.
Wie hältst du’s mit der Kirche? Zur Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft. Erste Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (2023), hg. von EKD. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt.
Bild: https://pixabay.com/photos/meditate-woman-yoga-zen-meditating-1851165/