Neue Routen des Glaubens

Die spirituelle Zukunft der Religion im säkularen Zeitalter nach Charles Taylor | Von Thorsten Dietz

1. Glauben im säkularen Zeitalter

Charles Taylors Buch „Ein säkulares Zeitalter“ ist eine unvergleichlich grosse Erzählung über die vielfältigen Geschicke des Glaubens und des Unglaubens in der Neuzeit. Was ist der Gewinn von Charles Taylors ausführlicher Beschreibung des säkularen Zeitalters?

Taylor stellt die religiösen und die säkularen Einstellungen so differenziert und vielschichtig dar, dass man auf beiden Seiten viel lernen kann. Und das ist nötig.

Ein säkulares Zeitalter ist etwas schlechthin Neues. Wir kennen keine geschichtlichen Vorbilder für den Glauben in einer solchen Zeit.

Zu Beginn der Säkularisierung konnte man Menschen mit dieser Vorstellung noch Angst machen. Aber inzwischen haben auch die meisten religiösen Menschen das Fürchten verlernt. Wer heute sehr säkulare Länder wie Neuseeland, Kanada, Schweden, die Niederlande etc. mit hochreligiösen Nationen beliebiger Religion vergleicht, wird sich kaum noch in der Lage sehen, sich vor den säkulareren Gesellschaften zu fürchten.

Zugleich ist auch klar: Ein säkulares Zeitalter ist keine religionslose Welt. Religionen verlieren ihren Einfluss. Aber nach wie vor haben sie viele Angehörige. Zumal im globalen Süden.

So wie kein religiöser Mensch heute der Tatsache zunehmender Säkularisierung aus dem Wege gehen kann, so kann sich auch kein säkularer Mensch völlige Unwissenheit über Wesen und Einfluss der Religionen in Geschichte und Gegenwart leisten.

Bei Taylor gewinnt man auf beiden Seiten der religiös / säkularen Wasserscheide Verständnis für die jeweils andere Seite und die geschichtliche Entwicklung, die zur heutigen Situation geführt hat. Das ist eine Zumutung für alle, aber auch eine Chance. Für Säkulare, weil sie Entwicklungen innerhalb der christlichen Geistesgeschichte verpflichtet bleiben, wie dem Projekt der modernen Naturwissenschaften insgesamt. Umgekehrt können religiöse Menschen nicht übersehen, dass die säkulare Welt zentrale Werte der christlichen Welt übernommen hat. Die immer neue Kreuzung zahlreicher christlicher und postchristlicher Perspektiven erzeugt ein ungeheuer lehrreiches Panorama. Die Stimme der jeweils anderen Perspektiven anzuhören, ist die durchgängige Empfehlung seines Werkes.

„Anstatt sofort nach den Waffen der Polemik zu greifen, sollten wir auf eine Stimme horchen, in der wir selbst niemals hätten sprechen können und deren Tonfall uns vielleicht für immer unbekannt geblieben wäre, wenn wir uns nicht um Verständnis bemüht hätten.“ (Taylor 2012, 1246)

2 Fundamentalistische Irrwege in der Moderne

Das Phänomen des exklusiven Humanismus, einer Haltung, die eine möglichst starke Zurückdrängung aller Religion aus der Öffentlichkeit in eine möglichst unsichtbare Privatheit anstrebt, ist ein Problem der Moderne, wie wir im vorangegangenen Beitrag zu Taylor gesehen haben. Taylor lässt keinen Zweifel daran, dass sich in dieser Haltung Unwissenheit über die Religionen und Missachtung moderner Freiheitsrechte verbinden.

Aber nicht nur die säkulare Moderne, auch die Religionen haben ihre Lernaufgaben. Eine entscheidende Einsicht für religiöse Menschen formuliert Taylor so:

„Der religiöse Glaube kann gefährlich sein.“ (Taylor 2012, 1273)

Faktisch stimmen alle religiöse Menschen dieser Einsicht zu, zumindest wenn sie an andere Religionen denken. Die Gefährdung der eigenen Religion anzuerkennen, das ist die Herausforderung. Es gibt heute quer durch alle Weltreligionen teils mächtige Bewegungen, denen es nicht mehr um einen Beitrag zum Gemeinwohl aller geht, sondern um einen erbitterten Kulturkampf, den sie gegen alles führen, was in irgendeiner Weise als modern, liberal oder aufgeklärt erscheint.

  • Fundamentalismus deutet die Moderne als Zerfall. Die Gleichheit aller Menschen, ein Leben in Selbstbestimmung und Freiheit, Schübe der Individualisierung – all das sind aus fundamentalistischer Sicht Erscheinungen der sündhaften Lossagung des modernen Menschen von der alleinigen Autorität Gottes und seiner Gebote.
  • Fundamentalismus ist unfähig, säkulare oder liberale Lebenshaltungen überhaupt ernst zu nehmen oder gar anzuerkennen. In fundamentalistischer Perspektive sind säkulare Menschen vielleicht in Einzelfall fähig zu moralischem Handeln. Letztlich aber seien es Menschen ohne moralischen Kompass.
  • Fundamentalismus kennt kein dialogisches Verhältnis zu Angehörigen anderer Religionen oder Weltanschauungen. Insbesondere Formen eines ökumenischen, volkskirchlichen Christentums oder wissenschaftlicher Theologie werden als Irrlehre und Verführung zurückgewiesen.
  • Religiöser Fundamentalismus ist oft verbunden mit einer „Ideologie der Polarisierung“ (Taylor 1996, 892), in der man nur in der absoluten Abgrenzung vom Bösen „ein Gefühl der Reinheit“ erlangt, „indem man in unversöhnlicher Feindschaft gegen die Kräfte der Finsternis antritt. Je unversöhnlicher, ja gewaltsamer die Feindschaft, desto mehr wird die Polarität als absolute dargestellt“ (Ebd).
  • Fundamentalismus ist gefangen in längst widerlegten und überholten Idealen einer Apologetik des 18. und 19. Jahrhunderts. Dass Gott sich nicht mehr rational als notwendig anzunehmende Grundlage von Macht und Moral plausibel machen lässt, dass Glaube heute ohne den Schutz durch politische Macht auskommen muss, bleibt undenkbar.

Solche Gefährdungen finden sich in islamistischen, hindunationalistischen, christlich-fundamentalistischen Richtungen und anderen mehr. Taylor nennt explizit auch linke Gefährdungen, Haltungen, in denen man sich ausschliesslich mit den Opfern dieser Welt identifiziert und das Böse exklusiv auf „die Anderen“ projiziert wird (Taylor 2012,1132).

Entgegen ihrem Selbstverständnis sind diese fundamentalistischen Glaubensform in keiner Weise traditionell oder konservativ. Völlig zu Recht sagt Taylor über das Beispiel einer politisierten evangelikalen Bewegung: „Diese Religion ist in allen möglichen Hinsichten von der modernen Welt kontaminiert.“ (Taylor 1996, 859)

Fundamentalismus wird dort akut, wo man seine eigene religiöse Wahrheit für alle Fragen der Zeit absolut setzt: Im katholischen Bereich die Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramtes auch für alle moralischen und gesellschaftlichen Fragen, im Protestantismus das Prinzip der Irrtumslosigkeit der Bibel.

Trotz aller Unterschiede funktionieren diese Grundhaltungen im Prinzip ähnlich. In ihnen verbinden sich ein fundamentales Misstrauen gegen die plurale Welt, die Unfähigkeit, wissenschaftliche Wahrheitssuche als relevant anzuerkennen, polarisierendes Handeln in der Öffentlichkeit, und geistige Abschottung der eigenen religiösen Gemeinschaften von jeder Nähe zu anderen sozialen Gruppierungen.

In Taylors Werk sind diese Merkmale einer rückwärtsgewandten und destruktiven Religion nur ein Nebenstrang, dessen Zukunftsfähigkeit Taylor aus heutiger Sicht wohl unterschätzt hat.

Im Zentrum seiner Überlegungen steht viel mehr die Frage: Welche Zukunft, welche begründete Hoffnung hat die Religion, die sich auf die säkulare Welt einlässt? Wie kann man religiös sein bzw. wie kann man Kirche sein in der heutigen Welt?

3. Das Unbehagen an der Moderne

Taylor ist überzeugt, dass die grosse Mehrheit der christlichen Gläubigen heute eine fundamentalistische Verhärtung genauso ablehnt wie einen vollständigen Abschied von jeglicher Religion. Die meisten halten sich an einen mittleren Weg, der Wege des Glaubens unter den Bedingungen der Moderne sucht.

Aber was ist der religiöse Beitrag zu dieser Welt? Was fehlt dem modernen Menschen – ohne Religion? Taylor hatte diese Spur bereits Jahre zuvor verfolgt in seiner kleinen Monographie „Das Unbehagen an der Moderne“ (1995).

Taylor ist keineswegs blind für den vielfältigen Reichtum der Moderne. Und doch diagnostiziert er ein Unbehagen, nicht das, welches der Moderne von ihren fundamentalistischen Kritikern entgegen gebracht wird, sondern ein Unbehagen, das sich vielfältig in der modernen Kultur selbst zum Ausdruck bringt.

Taylor nennt einige typische Klagen über das moderne Leben. In der verwalteten Welt freier Märkte ist der Einzelne zunehmend auf sich gestellt, wirtschaftlich, politisch und kulturell. Klassische Einbindungen in die Gemeinschaften des Wohnens und Glaubens werden schwächer.

Soziale Vereinsamung und Atomisierung greifen um sich. Menschen empfinden einen Verlust der Ganzheit, sie leiden an Fragmentierungen, wo es für viele Teilprobleme gute Lösungen, aber keine Einbettung mehr ins gesamte Leben gibt. Es gibt keinen gemeinsam geteilten Horizont eines guten Lebens.

Man mag darin die klassische Litanei der neuzeitlichen Modernitätsskepsis sehen, wie sie sich seit der Romantik durch die westliche Geistesgeschichte zieht. Es kommt Taylor nicht in den Sinn, dieses Leiden an der modernen Welt zu einer grundsätzlichen Infragestellung der Moderne aufzubauschen. Dafür bringen moderne Ideale der allgemeinen Menschenrechte und der Würde des Individuums viel zu deutlich zutiefst christliche Intuitionen des unendlichen Wertes des menschlichen Lebens zum Ausdruck.

Aber konsequent zu Ende gedacht, fehlen der Moderne die gedanklichen Ausdrucksformen, die vorausgesetzte Würde des Menschlichen zu begründen und zu kommunizieren. Wissen und Werte bleiben unverbunden.

Es ist Taylor dabei nicht um eine Letztbegründung oder um eine Ableitung der gesellschaftlichen Ordnungen aus religiösen Quellen zu tun. Dass es so etwas nicht gibt und nicht geben kann, ist gerade eine der wertvollen Einsichten der Moderne.

Alle Versuche, religiöse Letztbegründungen durchzusetzen haben gerade zu den Verwerfungen des konfessionellen Zeitalters und zum Aufstieg einer grundsätzlich religionskritischen Haltung in der Moderne geführt.

Aber auch inmitten der säkularen Gesellschaft meldet sich immer wieder ein Unbehagen. Menschen hören nicht auf zu fragen, ob es denn nicht mehr als alles gibt, mehr als das Messbare, irgendein Ziel des Lebens, einen letzten Halt angesichts von Einsamkeit, eine Hoffnungsperspektive auch inmitten von Schuld und Leiden. Dieses Unbehagen wird zum Einfallstor spiritueller Anmutungen, in denen Menschen nach einem Jenseits der vermessenen Welt fragen.

„Aus spiritueller Perspektive wird man annehmen, dass wir uns irgendwo tief in unserem Inneren dazu hingezogen fühlen, eine spirituelle Realität anzuerkennen und zu unserem Leben in Beziehung zu setzen. Vielleicht fühlen wir uns zu dieser Realität hingezogen, vielleicht sehnen wir uns nach ihr; ohne sie sind wir unzufrieden und haben das Gefühl, es fehle uns etwas. (…) Auch Menschen, die in der Welt des normalen menschlichen Gedeihens äußerst erfolgreich sind, können Unbehagen und vielleicht Reue empfinden.“ (Taylor 2012, 1032)

4. Neue Routen zum Glauben

4.1 Erfahrungen der Fülle

Die Frage, was Religion genau ist, muss nach Taylor chronisch unscharf gelassen werden. Es gehört zu den Signaturen der Gegenwart, dass sich eine unüberschaubare Fülle von Phänomenen zeigt. Gemeinsam ist ihnen zunächst, dass es sich um menschliche Erfahrungen handelt. Bei der Religion handelt es sich Erfahrungen besonderer Tiefe, in denen Menschen nicht nur etwas erfahren, sondern sich selbst, und dies im Horizont des Ganzen.

Diesen Zusammenhang, dass es in der Religion ums Ganze geht – und um mich selbst, fasst Taylor mit der Formulierung eines „Gefühl der Fülle“ (Taylor 2012, 18f.; 993-995; 1000) zusammen.

Es gibt den bedeutenden Vorschlag, Religion mit der Sinnfrage zu identifizieren. Doch eine solche Zuspitzung weist Taylor zurück. Im menschlichen Leben gibt es viele Formen von Sinnerfüllung.

Die These, dass die entzauberte Moderne nur noch ein amoralisches und sinnloses Leben bereithält, hat mit der Realität nichts zu tun. Menschen finden unentwegt Sinn: In Liebesbeziehungen, Verwirklichung im Beruf, künstlerischer Tätigkeit, Fürsorge für andere und in vielen weiteren Dingen.

Und doch lässt sich an diese Frage anknüpfen. Was sich in der Moderne nicht mehr formulieren lässt, ist ein Sinn des Sinnes. Ein Einheitsgrund, in dem die unterschiedlichen Stränge des eigenen Lebens zusammengehalten sind. Ein Gesamtzusammenhang, der sich auch da als tragend erweist, wo sich einmal gefundener Lebenssinn auflöst, etwa durch das Ende einer Beziehung oder durch Verlust eigener Arbeitsfähigkeit.

Es gibt mehr als religiösen Sinn. Aber die Einbettung aller Erfahrungen von Sinn in ein Ganzes, in dem die eigene Existenz und das Dasein als solches als sinnvoll erscheint, gibt es im säkularen Zeitalter nicht mehr als geteiltes Allgemeines. Und manchmal vermissen Menschen genau einen solchen Horizont. Und sie erfahren die eigene religiöse Ahnung oder Gewissheit als tragend, dass es Sinn in allem gibt, auch wenn er im Einzelnen fragwürdig oder unbegreiflich zu sein scheint. Oder sie sehnen sich zumindest nach solchen Erfahrungen.

„Aus der Nirgendwo-Perspektive ist das Universum eben gleichgültig, und es ist witzlos, vom Fehlen eines Sinns zu reden. Doch aus der Perspektive des Lebens lässt sich die Erwartung – die Forderung nach Sinn – nicht auslöschen.“ (Taylor 2012, 974)

4.2 Anerkennung in Liebe

Schon in seinem Werk „Die Quellen des Selbst“ (1996) macht Taylor klar, worin er die einzigartige Bedeutung des christlichen Glaubens sieht. Im Gedanken unbedingter göttlicher Liebe. Taylor nähert sich der Bedeutung dieser Frage über den Weg der menschlichen Identität an.

Menschen sind in der Moderne mehr denn je auf sich gestellt. Sie finden Bejahung nicht mehr einfach über ihren sozialen Stand oder ihre gesellschaftliche Funktion. Anerkennung muss mehr denn je erworben werden. Darum hat die romantische Liebe einen so ungeheuren Stellenwert gewonnen. Hier erwarten sich Menschen die umfassendste Anerkennung ihrer selbst als ganze Person. Solche Beziehungen der Anerkennung sind weder selbstverständlich noch bedenkenlos stabil. Heute könne man von einer „Krise der Bejahung“ (Taylor 1996, 777) reden. Es gibt kein gelingendes Leben ohne Bejahung, zu der auch die Selbstbejahung gehört. (Taylor 1996, 775). Worin gründet menschliche (Selbst-)Bejahung? In Auseinandersetzung mit den klassischen Krisendenkern der Moderne Kierkegaard, Nietzsche und Dostojewskij kreist Taylor dieses Thema ein.

Alle drei waren stark in ihren Diagnosen, wie sehr die auf sich gestellten Menschen gefährdet sind, in Selbstablehnung oder Verzweiflung an sich selbst zu verfallen. Es liegt Taylor fern, eine Rückkehr hinter die Moderne oder die Aufklärung zu fordern. Die Geschichte kennt kein goldenes Zeitalter. Seine Sorge ist vielmehr, dass eine verengte Moderne sich abschneidet von den Quellen umfassender Bejahung, wie sie in der Philosophie und in der Kunst vielfach schon gegeben waren; und eben auch in der Religion.

Das Einzigartige in der Religion ist für Taylor „die zentrale Verheißung einer göttlichen Bejahung des Menschlichen“ (Taylor 1996, 898).

Taylor gewinnt in Anknüpfung an diese Stimmen ein Konzept von Liebe, das jeden Anschein von Seichtigkeit vermeidet. Mit Dostojewskij: „Was uns verwandeln wird, ist die Fähigkeit, die Welt und uns selbst zu lieben und die Welt allem Bösen zum Trotz als etwas Gutes zu sehen.“ (Taylor 1996, 783)

Gerade Dostojewskij steht für die Einsicht, dass es dabei nicht um einen Weg zurück in vormoderne Geborgenheiten geht. Bezeichnenderweise nannte Dostojewskij den vollendeten Atheismus als die zweithöchste Entwicklungsstufe vor dem vollkommenen Glauben.

Man mag eine solche Hierarchisierung insgesamt problematisch finden, aber sie zeigt: Für Dostojewskij war der Weg zur umfassenden Bejahung nicht eine Verdrängung des Atheismus und seiner argumentativen Stärke, sondern seine Durchschreitung als eine heute unumgängliche Herausforderung.

Der Weg des Glaubens kann nur durch die krisenhaften Verunsicherungen der Moderne hindurchführen, nicht an ihnen vorbei.

Der christliche Glaube ist auch nicht davon abhängig, das moderne Selbst mit seiner Selbstständigkeit destabilisieren zu müssen, damit die traditionelle Form der Religion noch zum Zuge kommen kann. Insbesondere Dostojewskij hat gezeigt, dass der Weg durch die Krisen der modernen Verunsicherungen möglich ist, dass es gelingen kann, sich mit allen Krisen des Selbstverhältnisses als von Gott geliebt und bejaht zu erfahren.

Von Gott heisst es, dass „er uns in einer Weise liebt, in der wir einander nicht ohne Hilfe lieben können.“ (Taylor 2012, 480)

„Das Herzblut dieser neuen Beziehung ist die Agape, die nicht einfach durch Bezugnahme auf eine Reihe von Regeln zu verstehen ist, sondern als Erweiterung einer bestimmten Beziehung, die sich durch ein Netzwerk ausbreitet.“ (Ebd.)

4.3 Leben nach dem Tod

Ohne dass sich Taylor näher theologisch auf eine explizite Entfaltung seines Christentumsverständnisses einlässt, geht es ihm grundsätzlich um einen christlichen Theismus, inklusive seiner Hoffnung auf ein ewiges Leben jenseits der Todesgrenze.

Natürlich, eine solche Hoffnung gilt vielfach als naiv, als Ausweichen vor der harten Grenze eigener Sterblichkeit. Die Kritik formuliert nicht nur einen Illusionsverdacht. Im Raum steht auch der Verdacht, dass die christliche Erlösungshoffnung nicht selten mit einem fragwürdigen Heilsegoismus einher geht.

Taylor bestreitet keine Sekunde, dass es solche unreifen und problematischen Formen der Jenseitsorientierung gibt. Zugleich weist er darauf hin, dass die Tradition der Hoffnung auf ein Jenseits des Todes nicht auf seine schwächsten Erscheinungsformen reduziert werden sollte.

Die Hoffnung auf ein ewiges Leben muss nicht Zeichen unreifer Gesinnung sein. Taylor verweist auf Walter Benjamin und seine Intuition, dass diese Welt im säkularen Horizont keine Hoffnung kennt, dass die Unterdrückten und Marginalisierten in irgendeiner Form Gerechtigkeit erfahren.

„Das ist es, was Walter Benjamin umtrieb: dieses unstillbare Bedürfnis, jene zu retten, die in der Geschichte niedergetrampelt wurden.“ (Taylor 2012, 1196)

Es geht in der Ewigkeitshoffnung eben nicht nur um die egoistische Haltung, nicht aufhören zu wollen. Es kann ein tief humanes Erschrecken darüber geben, dass alles, was wir je für wertvoll und wichtig gehalten haben, irgendwann in ein Nichts ohne jede Erinnerungsspur verschwindet.

Hoffnung auf ein ewiges Leben – ist „nicht so trivial und kindisch“ (Ebd.) wie oft dargestellt. Es ist das Festhalten an einem Schlüsselwert auch der Moderne, an der Gerechtigkeit, auch für diejenigen, die in dieser Welt keine Hoffnung mehr haben können.

Vielleicht lassen sich auch deshalb noch sehr viele Menschen kirchlich bestatten oder benutzen zumindest religiöse Orte, Symbole und Zeichen, weil „hier zumindest eine Sprache gegeben ist, die dem Bedürfnis nach Ewigkeit entspricht, selbst wenn man nicht sicher ist, ob man das glaubt.“ (Taylor 2012, 1198)

4.4 Religion der Nächstenliebe

Für sehr viele nicht mehr gläubige Menschen besitzt das Christentum zumindest als Religion der Nächstenliebe einen moralisch-praktischen Aspekt, dem grosser Respekt bezeugt wird. Diese Wertschätzung ist natürlich nicht allgemein. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Religionen und wesentlich auch das Christentum wieder und wieder dafür benutzt worden sind, im Namen des Guten, ja Gottes, im vermeintlichen Kampf gegen das Böse Gewalt zu rechtfertigen, bis hin zu Bosheit und Grausamkeit. Der Sündenbock-Mechanismus, wie ihn Rene Girard so eindrücklich beschrieben hat, lässt sich durch die Christentumsgeschichte verfolgen.

Der Punkt ist: Auch unter weit fortgeschrittener Säkularisierung „stellt man fest, dass dies alles ohne weiteres auch die Verwerfung der Religion überstehen kann und in ideologisch-politischen Formen wiederkehrt, die entschieden laizistisch, ja atheistisch sind“ (Taylor 2012, 1142), wie Taylor mit Verweis auf die Jakobiner und die Bolschewisten ausführt.

Die religiöse und die säkulare Welt stehen letztlich vor einer ähnlichen Herausforderung. Beide leben auch von einem anderen Erbe, das sich ebenfalls in der Epoche des Christentums herauskristallisiert hat. „Die Ethik des Evangeliums ist enorm ausgeweitet worden und zur universellen Solidarität geworden“ (Taylor 2012, 1153); auch gegenüber den Fernsten.

Offensichtlich braucht es beides: Eine tiefe Hingabe an das Wohl aller Menschen, auch der Geringsten und der Fernen. Und ein Bewusstsein dafür, wie anfällig Menschen im Kampf für das Gute sind, sich selbst in höchst problematischer Weise mit dem Guten zu identifizieren und dabei neue Ungerechtigkeiten und Feindseligkeiten zu produzieren.

Die Gefahr, dass man noch im Kampf für das Gute zur besonders tragischen Gestalt eines verblendeten Bösen werden kann, darf man nicht übersehen. Die christliche Sicht vom Menschen als Ebenbild Gottes, das zu allem Bösen verführbar ist, ist eine starke Basis, solche Ambivalenzen wahrnehmen zu können.

Und immer wieder kann man den Eindruck gewinnen: „Vielleicht können nur Gott und bis zu einem gewissen Masse auch diejenigen, die sich an Gott binden, Menschen lieben, die völlig elend sind.“ (Taylor 2012, 1134)

Kirche unterhält viele Formen der Diakonie, Caritas, Hilfswerke. All das ist gut und sinnvoll. Für viele Menschen ist dies heute die letzte überzeugende Form von Christentum.

Christlicher Glaube ist die Religion der Nächstenliebe. So verstehen sehr viele moderne Zeitgenossen das Christentum; und sie verstehen es so auf jeden Fall besser als die fundamentalistischen Verfälscher der christlichen Tradition.

Eine RELIGION der Nächstenliebe zu verkörpern – darin dürfte die christliche Herausforderung der Kirchen bestehen. Dass die Kirche sich um Bedrängte kümmert, ist nicht das, was sie einzigartig macht. Menschen vieler Weltanschauungen und Religionen tun dies, im kirchlichen Kontext und weit darüber hinaus.

Gelebte Nächstenliebe ist nicht der einzigartige Beitrag der christlichen Kirchen, sondern die Mindesterwartung, die man an ihr öffentliches Wirken haben darf.

Dass sie die spirituellen Quellen bereitstellt, aus der sich die Kraft zur Hingabe und zur Liebe immer wieder erneuern kann, das dürfte der besondere Beitrag des Christentums sein.

Nicht DIE Liebe können die Kirchen für sich reklamieren, vielleicht aber Quellen und Rituale, aus denen sich ein Leben in der Liebe immer wieder neu stärken, vergewissern und praktizieren lässt.

Taylor betont es immer wieder: Diese Routen zum Glauben stellen keine vollständige Liste dar. Nicht zuletzt die Kunst stellt in der Moderne eine Fülle von Anregungen und Transzendenzanmutungen zur Verfügung. Welche Zugänge zur Transzendenz Gottes sich öffnen, lässt sich nie abschliessend festlegen.

Dass diese neuen Routen des Glaubens weniger doktrinär und regelförmig, dafür erfahrungsbezogener und insgesamt spiritueller sind, ist bezeichnend für die religiöse Landschaft in einem säkularen Zeitalter.

Der Glaube stirbt im säkularen Zeitalter nicht notwendig aus. Gerade als Ressource lebenstragender Spiritualität bleibt er für viele Menschen unverzichtbar; und könnte für andere noch zu einer echten Entdeckung werden.

Literatur

Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Berlin 2012.

Charles Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt am Main 1995.

Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt am Main 1996.